Samstag, 12. Januar 2013

Stillstand ist Rückschritt



Der Proletarier war wieder am Ende seines Lateins

In Havanna trafen kürzlich Kisten aus den Vereinigten Staaten ein, mit Maschinen für die Herstellung guter und billiger Zigarren. Die aufgeklärten Zigarrenarbeiter in Havanna vermochten aber das Ausladen der Maschinen zu verhindern, und so fuhr das Schiff mit den guten Maschinen wieder dorthin zurück, woher es gekommen war. Die Zigarrenarbeiter aber freuen sich über ihren „Sieg“, der sie vor Arbeitslosigkeit und Lohndruck schützen soll.

Stillstand ist Rückschritt. Auch diese Politik der kubanischen Zigarrenarbeiter muss als Stillstand, somit als Rückschritt bewertet werden. Rückschritt dient also hier als Kampfmittel gegen Arbeitslosigkeit und Lohndruck! Nun wird jeder zugeben, dass, wenn der Rückschritt für die Tabakarbeiter vorteilhaft ist, der Rückschritt auch für alle anderen Arbeiter vorteilhaft sein muss. Wir wissen, wie schlecht den Webern die Erfindung des mechanischen Webstuhles bekommen ist. Hätten doch damals die Weber den Mut der kubanischen Tabakarbeiter gehabt und hätten sie alle mechanischen Webstühle zerschlagen! Da hatten die hessischen Schiffer, die auf der Weser Papins Dampfschiffmodell zerschlugen, doch mehr Weitblick gezeigt. Und die Fuhrleute, die die Schienen der neu erbauten Eisenbahn wieder aufrissen, handelten sie nicht auch im Geiste der Tabakarbeiter? Und so überall in der Welt, auf allen Gebieten der Technik? Immer wird es so sein, dass der Fortschritt in der Technik die Interessen einzelner Menschen, ganzer Gruppen verletzt. Die Erfindung amerikanischer Landbebauungsmaschinen gab z. B. seiner Zeit den Anlass zu der so genannten Not der Landwirtschaft, die den ökonomischen Ruin unzähliger Gutsbesitzer und Bauern verschuldete und die uns die Agrarpolitik brachte, von der der Gedanke des „Geschlossenen Wirtschaftsgebietes“ kam, der wieder die imperialistischen Bestrebungen weckte, mit denen wir in den Weltkrieg gerieten. Hätten wir doch auch damals die landwirtschaftlichen Maschinen bei ihrer Ausschiffung in Hamburg zerschlagen! Dann könnten die Bäuerinnen heute noch das Korn mit Flegeln dreschen und hätten den ganzen Winter über die schöne Arbeit von morgens 2 Uhr bei einer trüben Stalllaterne bis abends 6. Wie herrlich wäre es gewesen und wie gut würde uns doch das mit der Hand von schwitzenden Menschen gedroschene Korn schmecken! Und wie idyllisch der Gedanke, dass das Brot uns nicht auf kalten Eisenbahnschienen zugeführt wird, sondern auf gemütlichen Landfuhrwerken, gezogen von wiederkäuendem Getier! Wie interessant waren die auf schweißtriefenden Pferden durch einen besonderen Kurier überbrachten Eilbriefe mit der Mitteilung, dass die Schwiegermutter unterwegs sei, wie interessant, verglichen mit der heutigen telephonischen Mitteilung gleichen Inhalts!

Es fehlte eben damals wie noch heute an entschlossenen Männern, wie sie in Havanna jetzt aufgetreten sind. Es fehlt überall der Arnold von Winkelried, der sich dem Fortschritt der Technik, der Arbeitslosigkeit und dem Lohndruck entgegenzustemmen weiß, unter Umständen mit Opferung des Lebens, bis dass der Lohn des mit Maschinen arbeitenden Proletariers, der heute in Amerika – dank diesen Maschinen – bereits 8 Dollar (Anmerkung: entspricht etwa 100 Dollar nach heutiger Kaufkraft) täglich etwa erreicht hat, wieder auf das Niveau des kubanischen Landarbeitslohnes gesunken ist.

Auf also, lasst uns die Kubaner nachahmen! Zerschlagen wir allgemein alle Maschinen, alle Eisenbahnen, Druckereien, Telegraphen, alles, restlos alles, was die Arbeit erleichtern könnte, bis hinab zur Steinaxt, die die Produktivität der menschlichen Arbeit doch auch ganz ungebührlich steigerte. Fort mit all diesem Unsinn, und wenn es nicht reicht, so hauen wir allen Männern eine der beiden Hände ab! Wie viel mehr Zigarrenarbeiter werden in Havanna nötig sein, wenn sie nur mehr eine Hand haben!

Kratzen wir die Ackerkrume mit unseren Fingernägeln auf, zünden wir das Feuer durch stundenlanges Reiben von Holz an. Dann werden wir wieder richtig wie früher in Höhlen leben dürfen.

Die kubanischen Tabakarbeiter sind keine Kapitalisten, die warten können, bis dass sich die Rückwirkungen der Zigarrenverbilligung fühlbar bei anderen Industrien machen werden. Sie haben auch nicht das Geld, um etwa im Ausland Arbeit zu suchen. Sie leben von der Hand in den Mund und müssen darum auch eine Hand-zum-Mund-Politik betreiben und vor der Welt als Maschinenstürmer sich lächerlich machen. Die Zerschlagung der Maschinen ist vom Standpunkt der Proletarier vollständig vernünftig. Wie unvernünftig aber muss eine Wirtschaftsordnung sein, in der offener Blödsinn zum Mittel der Selbsterhaltung wird, wo der Kampf ums Dasein die Masse des Volkes zu widersprechenden, blödsinnigen, barbarischen Maßnahmen drängt, wo sie vom Rückschritt fortschrittliche Folgen für sich erwartet! Ja, wahrhaftig, wie blödsinnig muss die Wirtschaftsordnung der Leute sein, die über die Politik der Tabakarbeiter lachen!

Wie verlaufen aber nun die Dinge in der von uns erstrebten freiwirtschaftlichen Ordnung? Müssen dann auch noch zum Schutz gegen Arbeitslosigkeit und gegen Lohndruck die Maschinen zerstört werden, mit denen man die Arbeit zu erleichtern sich bestrebt? Können wir dem Mann, der als Zigarrenarbeiter alt und grau geworden ist, versprechen, dass ihm die Erfindung von Zigarrenmaschinen keinen Schaden zufügen wird, dass er bis an sein Lebensende Zigarren wird drehen können, auch etwa dann, wenn es keine Nachfrage nach seinen Zigarren mehr gibt, entweder weil die Maschine billiger und besser arbeitet, oder weil man den Tabak nicht mehr raucht (kaut oder schnupft) sondern ihn kocht und ihn wie Kaffee genießt?

In der freiwirtschaftlichen Ordnung werden Nachfrage und Angebot nach wie vor die Preise der Arbeitsprodukte bestimmen. Hier muss jeder für sich sorgen. Kein Gott, kein Bonze und kein Tribun helfen da dem Arbeitslosen.

Wer hier durch eine neue Technik überflüssig gemacht ist, der muss sich nach einem neuen Erwerb umsehen, genau, wie das heute der Fall ist. Doch werden die Umstände wesentlich anders sein. Proletarier, das heißt, eigentumslose Menschen, die von der Hand in den Mund leben, die nicht die Mittel haben, einen neuen Beruf zu erlernen, in ein anderes Land zu ziehen, für die eine Arbeitspause von einem Monat oder Jahr zur Katastrophe wird, die wird es überhaupt nicht mehr geben.

Das Vermögen, das heute in den Händen weniger liegt, wird in mächtig erweitertem Umfang verteilt sein unter die Masse des Volkes und so wird jeder einen durch Betriebsumstellungen oder sonstwie erlittenen Schlag wohl ertragen können. Auch an die Mutterrente soll hier erinnert werden und an Freiland, wo jeder, der in den Städten Schiffbruch erleidet, einen letzten Zufluchtsort finden wird. Aber das wesentlich Neue der freiwirtschaftlichen Ordnung ist folgendes: Werden durch die Einführung neuer, Arbeit sparender Maschinen die Zigarren verbilligt, so muss sich sofort auf anderen Gebieten eine neue Nachfrage nach Waren zeigen, denn das Geld (Freigeld), das die Raucher an den verbilligten Zigarren sparen, muss irgendwo und zwar sofort zum Vorschein kommen, entweder in den Sparkassen, von wo aus es dann mit verstärktem Druck den Unternehmern angeboten wird, oder direkt in den Läden.

Zur Befriedigung dieser neuen zusätzlichen Nachfrage, die sich auf alle Gebiete der Industrie verteilen wird, müssen überall neue Arbeiter angestellt werden. Würden z. B. in Deutschland die Zigarren durch die Maschinen um etwa 100 Millionen Mark verbilligt, so werden sofort in der freiwirtschaftlichen Ordnung auch für 100 Millionen Mark andere Produkte nachgefragt werden – Theaterbillette, Pillen, Schnäpse, Literatur usw. Die Unternehmer würden sich die hierzu nötigen Arbeiter gegenseitig abluchsen, sodass die überschüssig gewordenen Zigarrenarbeiter leicht irgendwo einen Unterschlupf finden dürften, und zwar umso leichter, als es keine Reserve-Arbeiterbataillone (Massenarbeitslosigkeit) mehr geben wird.

Zu beachten ist auch hier, dass in der freiwirtschaftlichen Ordnung die Arbeiter zumeist selber die Aktie der Fabriken besitzen werden und daher auch selber darüber zu bestimmen haben werden, wann und in welchem Tempo die maschinelle Umstellung stattzufinden hat. In der freiwirtschaftlichen Ordnung wird der Typus des einfachen Arbeiters, der vom kaufmännischen und technischen Betrieb kaum eine blasse Ahnung hat, nach und nach, aber auf Nimmerwiedersehen verschwinden und durch einen Menschen ersetzt werden, der mit Umsicht und Selbstverantwortung seine Interessen zu wahren versteht, besser vielleicht, als es heute der Durchschnittsaktionär versteht.

Unter solchen neuen Verhältnissen würde das Vorgehen der kubanischen Zigarrenarbeiter kein Verständnis und noch viel weniger Unterstützung in der Öffentlichkeit finden. Niemand dürfte es dann noch wagen, einen Unternehmer daran zu hindern, Arbeit sparende Maschinen aufzustellen, oder ihn gar zu zwingen, bereits aufgestellte Maschinen wieder abzureißen. Bei uns, so wird es da heißen, herrscht der Wettbewerb uneingeschränkt. Sehe ein jeder, wo er bleibe. Bei uns wird gelebt von früh bis spät, von der Wiege bis zum Grabe. Wir lassen uns nicht von der Langeweile besiegen! Wir sind keine Versicherungsgesellschaft gegen den Fortschritt und weil wir das nicht sind, weil jeder als Konsument seine Interessen dadurch wahrt, dass er auf allen Gebieten dem Fortschritt freie Bahn schafft, stehen wir da, wo wir sind – individuell stark, wohlhabend und stolz.

Silvio Gesell, 1926


Das zivilisatorische Mittelalter (Zinsgeld-Ökonomie) ist durch eine unnatürliche Polarität gekennzeichnet, die prinzipiell alle Menschen in Zinsverlierer (Proletariat) und Zinsgewinner (Dekadenz) unterteilt. In beiden Fällen gibt es kein bewusstes Leben, wenn wir dieses als eine sinnvolle Abfolge von bewusstem Wollen und zumindest möglicher Willensbefriedigung auffassen. Denn ein Zinsverlierer muss ständig etwas wollen, um nur zu existieren, ohne aber die Chance zu haben, das Gewollte zu erreichen, während ein Zinsgewinner bereits existiert ohne etwas zu wollen und daher nicht wissen kann, was er wirklich will.

(NHC III 5 Wiederaufnahme des Gesprächs) "Ihr habt alle Dinge verstanden, die ich euch gesagt habe, und ihr habt sie im Glauben angenommen. Wenn ihr sie erkannt habt, dann sind sie die Eurigen. Wenn nicht, dann sind sie nicht die Eurigen."

Heute, am Ende des zivilisatorischen Mittelalters, haben zwei Sorten von Menschen überlebt: die Armen und die Dummen. Letztere wollen auf Kosten anderer leben, damit andere nicht auf ihre Kosten leben; und die Armen können sich nicht vorstellen, auch einmal etwas zu besitzen, ohne denen, die auf ihre Kosten leben, etwas wegzunehmen.

Zivilisiertes und intelligentes Verhalten ist mit den folgenden Worten überliefert,…

(an die Armen >) "Ihr habt gehört, dass gesagt ist: "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.
(an die Dummen >) Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will."

…wurde aber von den Armen nicht verstanden und von den Dummen schon gar nicht. Auch die zeitgemäße Übersetzung bereitet den Überlebenden noch immer die allergrößten Verständnisschwierigkeiten,…

(an die Armen >) "Man sagt es harmlos, wie man Selbstverständlichkeiten auszusprechen pflegt, dass der Besitz der Produktionsmittel dem Kapitalisten bei den Lohnverhandlungen den Arbeitern gegenüber unter allen Umständen ein Übergewicht verschaffen muss, dessen Ausdruck eben der Mehrwert oder Kapitalzins ist und immer sein wird. Man kann es sich einfach nicht vorstellen, dass das heute auf Seiten des Besitzes liegende Übergewicht einfach dadurch auf die Besitzlosen (Arbeiter) übergehen kann, dass man den Besitzenden neben jedes Haus, jede Fabrik noch ein Haus, noch eine Fabrik baut."
(an die Dummen >) "Der Kurzsichtige ist selbstsüchtig, der Weitsichtige wird in der Regel bald einsehen, dass im Gedeihen des Ganzen der eigene Nutz am besten verankert ist."

…sodass wir nur auf den Zeitpunkt warten können, an dem die reale Angst vor Armageddon (globale Liquiditätsfalle) größer wird als die seit Urzeiten eingebildete Angst vor dem "Verlust" der Religion (Cargo-Kult um die Heilige Schrift).


Stefan Wehmeier, 12.01.2012


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