Der folgende
Vortrag, der auf dem Bundestag des Freiwirtschaftsbundes am 9. November 1951 in
Heidelberg gehalten wurde, sei allen „modernen“ Politikern dringend empfohlen,
die schon lange nicht mehr wissen, was die Soziale
Marktwirtschaft ist, die nie verwirklicht wurde und heute verwirklicht
werden muss, bevor es zur ansonsten unvermeidlichen, größten anzunehmenden
Katastrophe der Weltkulturgeschichte kommt:
Mitten durch Deutschland geht der unheilvolle und verhängnisvolle Riss, der unsere ganze Welt in zwei feindliche Hälften zerspaltet. In der gegenwärtigen Versammlung der UN wird darüber beraten, ob dieser Riss noch heilbar ist, oder ob endgültig Ostdeutschland vom großen Machtblock des Ostens verschlungen, Westdeutschland in das Verteidigungssystem des Westens eingegliedert werden soll. Nur zögernd und widerstrebend fügt sich das deutsche Volk der von den Westalliierten und von der eigenen Regierung vertretenen Logik über die Notwendigkeit einer eigenen eindeutigen Stellungnahme und Parteinahme und eines eigenen Verteidigungsbeitrages im gefährlichen Spannungsfeld dieser weltpolitischen Blockbildung. Das deutsche Volk ist aufgerufen, die unverlierbaren Werte der westlichen Demokratie, allen voran die persönliche Freiheit, gegen die tödliche Bedrohung aus dem Osten zu verteidigen. – Aber ist es wirklich Freiheit, was der Westen ihm bieten kann? Ist es auch die so viel beredete und so oft verheißene Freiheit von Sorge und Not? Wünschen sich nicht die meisten Menschen auf Grund bitterster Erfahrungen lieber Sicherheit statt Freiheit, Sicherung ihres Lebens, ihrer Arbeit, ihres Auskommens in einer annehmbaren Sozialordnung, die der Liberalismus ihnen bis heute immer schuldig geblieben ist?
Vor der politischen
Entscheidung, in die das deutsche Volk gestellt ist, steht die soziale Frage.
Nicht nur Deutschlands Schicksal, sondern auf weite Sicht das Schicksal unserer
Welt, hängt ab von der Frage: Ist das soziale Problem lösbar im Rahmen des
westlichen Liberalismus? Kann eine haltbare Sozialordnung geschaffen werden
unter Wahrung der persönlichen Freiheit?
So liegt der
weltpolitischen Spannung zwischen Ost und West noch eine andere Spannung
zugrunde, die sich ebensosehr auf dem Feld der Innen- wie der Außenpolitik
auswirkt: die Spannung zwischen Liberalismus und Sozialismus. Entspringt sie
aus einem notwendigen und unvermeidlichen Gegensatz? Oder besteht die
Möglichkeit einer Aussöhnung zwischen den beiden Forderungen der persönlichen
Freiheit und der Sozialordnung?
Mit dieser
schwerwiegenden und bedeutungsvollen Frage wenden wir uns zunächst an die
Geschichte und erhalten von ihr die folgende Antwort. Ursprünglich, nämlich in
der Geburtsstunde des Liberalismus, stand dieser keineswegs im Gegensatz zum
Sozialismus. Im Gegenteil, mit der Parole „Gleichheit, Freiheit,
Brüderlichkeit“ erstrebte die aufkommende liberalistische Bewegung zur Zeit der
französischen Revolution die Befreiung gerade der gedrückten und unterdrückten,
der ausgebeuteten Volksschichten und damit einen Ausgleich der untragbar
gewordenen sozialen Unterschiede und Spannungen. Politisch erstrebte der
Liberalismus die Sicherung der persönlichen Menschenrechte, der Freiheitsrechte
des einzelnen gegenüber dem bis dahin absolutistischen Staat, die Einschränkung
der Staatsmacht durch konstitutionelle Verfassung und die Gleichheit aller vor
dem Gesetz. Wirtschaftlich erstrebte er die Freiheit des Handels und Gewerbes,
des Kaufens und Verkaufens, der Vertragsschließung und der Preisbildung, der
Wahl von Beruf, Wohnung und Arbeitsplatz. Aber eben diese wirtschaftliche Freiheit
schuf im Verlauf der weiteren Entwicklung neue soziale Spannungen an Stelle der
überwundenen alten, wirtschaftliche Vormachtstellungen an Stelle der politisch
und rechtlich verankerten alten Standesvorrechte. Die Ausbeutung blieb; nur die
Träger und die Methoden der Ausbeutung hatten gewechselt. Die politische Macht
wurde abgelöst durch die wirtschaftliche Macht des Monopolbesitzes und des
Kapitals.
Gegen diese
Entartung der liberalistischen Entwicklung erstand die sozialistische
Gegenströmung. Sie befürwortet eine Beschränkung der persönlichen Freiheit zu
Gunsten der Gesamtheit und insbesondere zu Gunsten der wirtschaftlich
schwächeren, sozial tiefer stehenden Bevölkerungsschichten. Über die persönliche
Freiheit des einzelnen stellt sie die Sozialordnung des Ganzen; sie erstrebt
die Sozialisierung wenn nicht allen Privateigentums, so doch zum wenigsten
aller Produktionsmittel.
Der innenpolitische
Kampf drängt zu revolutionären Lösungen mit dem obersten Ziel der Weltrevolution.
Sobald diese Revolution sich in einzelnen Staaten durchgesetzt hatte, gesellte
sich zur innenpolitischen Spannung noch die außenpolitische, die sich
schließlich zur weltpolitischen Spannung zwischen dem östlichen und dem westlichen
Machtblock unseres Planeten ausgeweitet hat.
Zugleich aber haben
die ursprünglich klaren Kampffronten der Ideen sich heillos verwirrt. Denn was
im Osten verwirklicht wurde, ist nicht der erstrebte und propagandistisch
verkündete Sozialismus, sondern ein verratener Sozialismus. Die Ausbeutung ist
geblieben; nur die Träger und die Methoden der Ausbeutung hatten gewechselt.
Die alleinige Allmacht des Staates ist an die Stelle einer Vielzahl privater
Wirtschaftsmächte getreten, das konkurrenzlose Staatsmonopol an die Stelle
vielfältiger Privatmonopole, der Staatskapitalismus an die Stelle des
Privatkapitalismus. Und was an sich selbstverständlich ist, hat eine bittere
Erfahrung hinlänglich bestätigt, nämlich daß ein einziger unumschränkter
Herrscher ein viel drückenderer, erbarmungsloserer Herr ist als die Vielzahl
kleiner Herren, die sich immerhin noch durch einen letzten Rest an Konkurrenz
in ihrer Macht gegenseitig beschränken.
Aber auch im
liberalistischen Westen wurde das Ideal der persönlichen Freiheit nie vollkommen
verwirklicht und ist gerade durch die gegenwärtige Entwicklungstendenz zunehmender
Sozialisierung, staatlicher Wirtschaftsführung und staatlicher
Investitionspolitik stärker gefährdet als je. Auf der anderen Seite hat aber
der Westen auch soziale Maßnahmen geschaffen, die jeder Arbeiter des Ostens,
soweit er überhaupt von ihnen Kenntnis bekommen kann, nur mit neidvoller und
verzweifelter Resignation betrachten kann.
Wie verhält sich
der Liberalismus zum Sozialismus, die persönliche Freiheit zur Sozialordnung? –
Nach unserem kurzen geschichtlichen Rückblick wenden wir uns mit dieser Frage
der gegenwärtigen politischen Ordnung des Westens zu, wie sie vor allem in den
Verfassungen der Demokratien fixiert ist, speziell für das heutige Deutschland
im Bonner Grundgesetz.
Mit Befriedigung
stellen wir fest, daß hier wie in allen modernen demokratischen Verfassungen
die Grundrechte des einzelnen, also die persönlichen Menschen- und
Freiheitsrechte, genau festgelegt und umrissen sind. Artikel 2 besagt: „Jeder
hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. …Jeder hat das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist
unverletzlich.“ – Artikel 4: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die
Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind
unverletzlich.“ – Artikel 5: „Jeder hat das Recht seine Meinung in Wort,
Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. …Die Pressefreiheit und die
Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.
Eine Zensur findet nicht statt. …Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre
sind frei.“ – Artikel 8: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder
Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ – Artikel 9: Alle Deutschen
haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. – Artikel 11: „Alle
Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“ – Artikel 12: „Alle
Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“
– Artikel 13: „Die Wohnung ist unverletzlich.“ – Artikel 14: „Das Eigentum und das
Erbrecht werden gewährleistet.“
Natürlich sind
diese Freiheitsrechte nicht unbeschränkt. Es ist durchaus verständlich, daß
ihre Ausübung allenthalben durch den Zusatz beschränkt wird: „... soweit es
nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt.“ Es ist auch noch
verständlich, wenn freilich schon bedenklicher, daß in diese Grundrechte durch
Gesetz eingegriffen werden darf, beispielsweise „zur Verhütung dringender
Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“, daß insbesondere in die
Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen werden darf „zur Behebung der
Wohnraumnot“. Was uns hier aber ausschließlich interessiert, ist die
Beschränkung der persönlichen Freiheitsrechte durch soziale oder sozialistische
Gesichtspunkte, wie dies z. B. bezüglich der Sachlage der Raumnot geschieht;
oder etwa nach Artikel 7: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des
Staates. …Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der
Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen“, wobei die
Genehmigung unter anderem auch davon abhängig gemacht wird, daß durch private Schulen
„nicht eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern
gefördert wird.“
Am deutlichsten
aber zeigt sich die Einschränkung der persönlichen Freiheit durch
sozialistische Forderungen in der Frage des Privateigentums. Artikel 14 sagt
hierzu: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der
Allgemeinheit dienen. …Eine Enteignung ist nur zum Wohl der Allgemeinheit
zulässig.“ Und dieser Gedanke findet seine Zuspitzung in dem darauf folgenden
Artikel 15: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum
Zweck der Vergesellschaftung durch Gesetz … in Gemeineigentum oder in andere
Formen der Gemeinwirtschaft übergeführt werden."
So sehen wir in den
Grundrechten beide Forderungen mit gleicher Klarheit ausgesprochen; die
liberalistische Forderung grundsätzlich in Artikel 2: „Jeder hat das Recht auf
freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ – die sozialistische Forderung
grundsätzlich in Artikel 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer
und Frauen sind gleichberechtigt. Niemand darf wegen seines Geschlechtes,
seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft,
seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt
oder bevorzugt werden.“ Und wir sehen, daß die beiden Forderungen der Freiheit
und der Gleichheit keineswegs so selbstverständlich nebeneinander bestehen
können, wie es das Schlagwort der französischen Revolution glauben machte;
sondern daß sie in einem spürbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen, ja dass
sie sich gegenseitig teilweise aufheben oder zumindest aufs stärkste
einschränken und entwerten.
Nachdem wir über
unsere Frage zuerst die geschichtliche Entwicklung und sodann die gegenwärtige
politische Ordnung zu Rate gezogen haben, wollen wir nun uns selbst, unsere
eigenen Wünsche, Vorstellungen, Begriffe und Gedanken darüber befragen, wie
Sozialismus und Liberalismus, Sozialordnung und persönliche Freiheit sich
zueinander verhalten.
Wir untersuchen die
grundlegenden Begriffe und stoßen zunächst auf den so schwierigen, umstrittenen
und vieldeutig schillernden Begriff der Freiheit. Glücklicherweise werden wir
vor allen philosophischen Fallstricken bewahrt durch die Einschränkung auf jene
Formen persönlicher Freiheit, die sich im sozialen Leben betätigen und durch
verfassungsmäßige Grundsätze umschrieben werden können. Und wir haben noch das
besondere Glück, aus der Geburtsstunde des Liberalismus eine Definition der persönlichen
Freiheit zu besitzen, die besser, umfassender, tiefer und klarer ist als in den
meisten wortreichen Formulierungen der modernen Verfassungen. In den Artikeln 4
und 5 der Erklärung der Menschenrechte von 1789 heißt es:
„Die Freiheit besteht hauptsächlich darin, alles tun zu
dürfen, was einem anderen nicht schadet. Die Ausübung der Naturrechte eines jeden
Individuums hat daher keine anderen Grenzen als jene, die anderen Gliedern der
Gesellschaft die Ausübung der gleichen Rechte gewährleisten. Diese Grenzen
können nur durch das Gesetz festgelegt werden. Das Gesetz hat nur das Recht,
die der Gesellschaft schädlichen Handlungen zu verbieten. Alles, was durch
Gesetz nicht verboten ist, darf nicht verhindert werden, und niemand kann
gezwungen werden, etwas zu tun, was es nicht vorschreibt.“
Die Freiheit
besitzt also eine natürliche und notwendige Einschränkung durch die Forderung
ihrer Allgemeinheit. Die unbeschränkte Freiheit einzelner, einer Minderheit
oder auch einer Mehrheit bedeutet in Wahrheit Herrschaft, nämlich Unterdrückung
und Knechtung der übrigen. Die Freiheit jedes einzelnen kann genau so weit
gehen, daß dem Nebenmenschen das gleiche Ausmaß an Freiheit gesichert ist.
Insofern es sich um
die Freiheit des Einzelmenschen, des Individuums handelt, gehen Liberalismus
und Individualismus Hand in Hand. Aber die aufgezeigte natürliche Beschränkung
der Freiheit bedeutet einen grundsätzlichen Einwand gegen den Individualismus.
Der Mensch ist nicht nur Individuum, d. h. ein für sich bestehendes
Einzelwesen, sondern er ist auch und ebensosehr, wie schon der griechische
Philosoph Aristoteles definierte, ein Gemeinschaftswesen. Er ist nicht völlig
unabhängig und selbstgenügsam, sondern er ist grundsätzlich
ergänzungsbedürftig; er ist beständig auf die Hilfe seiner Mitmenschen und auf
die Zusammenarbeit mit ihnen angewiesen, wie dies in der modernen Zivilisation,
Technik und arbeitsteiligen Wirtschaft besonders sinnfällig zum Ausdruck kommt.
Das Individuum ist nicht vor dem gesellschaftlichen Zusammenschluß da, wie die
Utopie eines Gesellschaftsvertrages nach Rousseau behauptet, und ebenso wenig die
Gesellschaft vor dem Individuum, sondern beide können nur gleichzeitig mit
einander und durch einander existieren. Individuum und Gemeinschaft sind nicht
Gegensätze, sondern sie sind zwei Pole im Doppelsinn der polaren Spannung und
der polaren Ergänzung. Wird in einem Magneten der eine Pol beseitigt, so
verschwindet notwendig im selben Augenblick auch der andere. Wird das
Gleichgewicht im polaren Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft
gestört, indem einer der beiden Pole zu Gunsten des anderen zurückgesetzt und
geschmälert wird, so ist dies für beide gleich verhängnisvoll.
Es ist eine
gefährliche These, daß Gemeinnutz vor Eigennutz gehe – eine These, die immer
wieder im Dienst einer herrschenden Minderheit, eines machtpolitischen
Apparates oder eines bürokratischen Mechanismus auf Kosten des Wohlergehens
aller einzelnen missbraucht wurde. Worin soll das Gedeihen der Gemeinschaft
bestehen, wenn nicht im Gedeihen aller einzelnen? Eine richtige Gemeinschaft
und eine richtige Sozialordnung muß so gebaut sein, daß der berechtigte
wohlverstandene Eigennutz des einzelnen der stärkste Motor und die beste
Sicherung des Gemeinwohles ist. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und
politischen Ordnungen sind vom Menschen und für den Menschen geschaffen; sie
haben dem Menschen und seinem Zusammenleben zu dienen. Die Ordnungen sind für
den Menschen da, nicht der Mensch für die Ordnungen.
Damit kommen wir
zum Begriff der Ordnung. Ihr entscheidendes Merkmal ist die Stabilität. Wenn
eine „Ordnung“ wirklich diesen Namen verdienen soll, so muß sie bestehen und
dauern, also stabil sein. Das hat zur Voraussetzung, daß sie möglichst frei ist
von Spannungen; also dass sie möglichst gerecht ist und mit einem Mindestmaß
von Zwang, mit einem Höchstmaß von Freiheit bestehen kann. Es muß eine
„natürliche“ oder „dynamische“ Ordnung sein, in der das freie Spiel der Kräfte
beständig von selbst zum Ausgleich jeder Störung und zur Wiederherstellung des ursprünglichen
Zustandes führt. Das Gegenstück ist die „künstliche“ oder „statische“ Ordnung,
die unter erzwungenen und erstarrten Formen die lebendigen Kräfte unterdrückt
und vergewaltigt, so daß diese entweder in illegalen unterirdischen Formen nach
einem Ausgleich drängen – ich erinnere nur an den Schwarzen Markt! – oder aber
unter der Decke sich heimlich aufstauen und steigern, bis es zur Explosion und
zur gewaltsamen Änderung der erzwungenen Ordnung kommt.
Diese Forderungen
gelten für jede Ordnung schlechthin und im allgemeinen Sinn des Wortes; ganz
besonders aber, wenn sie den Anspruch erhebt, eine Sozialordnung zu sein. Damit
stoßen wir auf einen weiteren Begriff, der als Gegenstück zum Begriff des
Liberalismus ebenso grundlegend und entscheidend für unser Problem ist, aber
auch ebenso schwierig, umstritten und vieldeutig schillernd: den Begriff des
Sozialismus. Wir wollen ihn seinem Wesen nach durch die Forderung der sozialen
Gerechtigkeit charakterisieren, nicht nach seiner historischen Entwicklung
durch irgendwelche äußerlichen Kennzeichen oder rein technischen Maßnahmen wie
z. B. die Sozialisierung der Produktionsmittel; denn hierbei handelt es sich ja
doch nur um Mittel zum Zweck, die entbehrlich werden, sobald bessere Mittel für
die Erreichung des gleichen Zieles gefunden werden.
Soziale
Gerechtigkeit! Gerechtigkeit heißt nach dem bekannten Grundsatz der alten
Römer: „Jedem das Seine!“ – nicht aber: „Jedem das Gleiche!“ Der richtig
verstandene Sozialismus geht deshalb völlig parallel mit dem richtig
verstandenen Liberalismus in der Forderung, daß jeder jene Lebensstellung und
jenen Lebensstandard erreichen und erhalten soll, wie er es nach Neigung,
Eignung und Leistung verdient. Nicht gleiche Lebens- und Arbeitsweise, gleicher
Lebensstandard für alle, sondern gleiche Voraussetzungen, gleicher Start für
alle heißt die Forderung. Die Verschiedenheit der Menschen nach Neigung,
Eignung und Leistung ist eine Tatsache, die nicht wegdisputiert und die nur
durch Zwang unterdrückt oder verdeckt werden kann. Eine Sozialordnung ist nur
dann natürlich und dynamisch im vorhin genannten Sinn, also auch nur dann
gerecht und stabil, wenn sie dieser natürlichen Ungleichheit der Menschen
Rechnung trägt. Und sie ist dann statisch, ungerecht und instabil, wenn sie
stattdessen eine künstliche Gleichheit der Menschen erzwingen will; ebensosehr
aber auch dann, wenn sie statt der natürlichen eine künstliche Ungleichheit der
Menschen schafft und durch Zwang aufrecht erhält, gleichgültig, ob es sich um
die künstliche Ungleichheit von Standesvorrechten, politischer Macht,
Wirtschaftsmonopolen oder Kapitalmacht handelt.
Unsere Überlegungen
haben uns gezeigt, daß der historisch gewordene Gegensatz zwischen Liberalismus
und Sozialismus keine innere Notwendigkeit besitzt. Freilich nur dann, wenn wir
auf den ursprünglichen, unverfälschten und unverzerrten Gehalt dieser beiden
Begriffe zurückgehen: reiner Liberalismus ohne kapitalistische Entartung, ohne
Monopolbesitz und Ausbeutung – reiner Sozialismus ohne überspitzte
Planwirtschaft, ohne staatlichen und kollektivistischen Zwang. Nur eine sozial
gerechte Ordnung kann stabil und damit freiheitlich sein; jede künstlich
erzwungene Ordnung aber führt durch Erstarrung und durch Unterdrückung der
lebendigen Kräfte des Ausgleiches notwendig zu neuen Ungerechtigkeiten. So verstanden
sind persönliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit zwei Forderungen, die sich
nicht widersprechen und gegenseitig einschränken, sondern gegenseitig bedingen
und stützen.
Freilich, unsere
letzten Überlegungen bewegten sich frei im Raume der Gedanken, der Begriffe und
Vorstellungen, nicht in jener realen Welt, wo hart im Raume sich die Dinge
stoßen. Die Geschichte des Liberalismus und des Sozialismus, die gegenwärtige
politische und soziale Ordnung, scheint unsere Gedanken Lügen zu strafen. Aber
das ist Schein! Der historische Liberalismus hat versagt – nicht als
Liberalismus, sondern in seiner verhängnisvollen Verquickung mit dem
Kapitalismus. Er hat versagt – nicht weil er zuviel, sondern weil er zu wenig
Freiheit verwirklichte. Hier liegt der folgenschwere Trugschluss der sozialistischen Gegenströmung. Die liberalistische Wirtschaft war in Wahrheit
keine freie, sondern eine vermachtete Wirtschaft, vermachtet durch
Monopolbildung, kapitalistische Machtballungen, durch Konzerne und Trusts, die
das Wirtschaftsleben über Preise, Zinsen und Löhne nach ihren eigenen
Interessen bestimmten. Wo durch Monopole und Oligopole, durch Konzerne und
Trusts der freie Wettbewerb entstellt und gefälscht, die freie
Konkurrenzwirtschaft unterbunden und zerstört wird, da fehlt die elementare
Grundlage eines liberalistischen Systems im ursprünglichen, klaren und
eindeutigen Sinn dieses Wortes.
Der Sozialismus
ersetzt die private Vermachtung durch die staatliche Vermachtung der Wirtschaft
mit dem Ergebnis, daß die soziale Gerechtigkeit keinesfalls erhöht, aber die
automatische und rationelle Funktionstüchtigkeit der Wirtschaft entscheidend
geschwächt wird. Der historische Weg, die unerwünschten sozialen Auswirkungen
einer fehlerhaften Wirtschaftsordnung durch politische Maßnahmen und staatliche
Eingriffe zu beseitigen, musste notwendig scheitern. Eine brauchbare
Sozialordnung kann nicht mit bürokratischen Mitteln erzwungen werden, sondern
nur aus einer richtig funktionierenden Wirtschaftsordnung erwachsen. Nur eine
natürliche, dynamische Gesellschaftsordnung auf der gesicherten Basis einer
natürlichen, dynamischen Wirtschaftsordnung ist stabil und kann ohne großen Aufwand
an bürokratischen Mitteln und gesetzlichen Regelungen nachträglich noch
politisch-rechtlich gesichert werden, soweit dies überhaupt noch erforderlich
ist.
Nun bleibt noch
eine Frage offen – freilich die entscheidende Frage, mit der alles bisher
Gesagte steht und fällt: die Frage nach der Existenz oder wenigstens nach der
Möglichkeit der hier geforderten natürlichen oder dynamischen
Wirtschaftsordnung. Leider geht die Beantwortung dieser Frage weit über den
Rahmen meines Vortrages hinaus und würde nicht nur einen eigenen, sondern noch
eine Vielzahl eigener Vorträge erfordern, nämlich die zusammenfassende
Darstellung und Begründung des gesamten Ideengutes und Erkenntnissystems der
Freiwirtschaftslehre, Stattdessen muß ich mich hier damit begnügen, diese
Wirtschaftsordnung mit ein paar Schlagworten zu charakterisieren, also mit
vorerst unbewiesenen Behauptungen für jeden, der das von uns gebotene
Beweismaterial noch nicht kennt.
Die wahrhaft freie
Wirtschaft, charakterisiert durch den unverfälscht freien Wettbewerb und die
uneingeschränkte Konkurrenz, kann nur durch Überwindung der Monopole
verwirklicht werden. Die Monopole beruhen einerseits auf dem künstlichen, d. h.
dem geschaffenen Kapital, nämlich den Produktionsmitteln und dem Geldkapital;
andererseits auf dem natürlichen, also angeeigneten Kapital, nämlich dem Grund
und Boden und allen Bodenschätzen. Das erstgenannte Kapital-Monopol wird nicht
gebrochen durch „Sozialisierung der Produktionsmittel“, sondern durch
Überwindung der Kapitalknappheit auf dem Wege einer ungestörten und ungehemmten
Vermehrung des künstlichen Kapitals, wie sie in jeder Konjunkturperiode so
hoffnungsvoll eingeleitet wird. Die regelmäßig sich wiederholenden Störungen
dieser Entwicklung durch einseitige Einkommensverteilung, durch die
Zinsinteressen und durch die aus beiden Ursachen resultierende Absatzkrise sind
letzten Endes in einer Struktureigentümlichkeit unseres Geldwesens begründet
und können durch eine geeignete Reform desselben überwunden werden. Das
zweitgenannte Kapital-Monopol beruht auf der nicht zu beseitigenden Knappheit
des natürlichen Kapitals und kann nur durch eine geeignete Bodenrechtsreform
gebrochen werden, die dem Wesen der „Sozialisierung“ nahe kommt. Geld- und
Bodenmonopol sind die beiden entscheidenden Monopole, die dem privaten
Machtzugriff entzogen und der Kontrolle der Allgemeinheit unterstellt werden
müssen. Die Verwaltung der Währung und die Überwachung des sozialen
Bodenrechtes sind die einzigen Staatsmonopole, die aber nach Durchführung der freiwirtschaftlichen
Reformen nicht mehr eine Machtstellung des Staates begründen, sondern lediglich
eine genau umrissene Funktionsausübung bedingen. Das Ergebnis ist eine
ausbeutungs- und hemmungsfreie, daher auch krisenfeste Vollbetriebswirtschaft,
in der auch künstliche Zusammenschlüsse wie Kartelle und Trusts sich unter dem
wachsenden Druck der Konkurrenz nicht zu halten vermögen. Diese wahrhaft freie
Wirtschaft ist zugleich die einzig denkbare sozial gerechte Wirtschaft, da sie
nach Beseitigung aller Formen des arbeitslosen Einkommens die soziale
Grundforderung des vollen Arbeitsertrages verwirklicht und den Lebensstandard des
einzelnen in einem unverfälschten und unverzerrten freien Wettbewerb nur nach
der Leistung bestimmt.
Die hier mit wenigen
Strichen charakterisierte Natürliche Wirtschaftsordnung ist die notwendige,
aber auch zureichende Grundlage für den Aufbau einer Sozialordnung, die
freiheitlich und zugleich gerecht ist. Nur auf einem wirtschaftlich gesicherten
Fundament können sich auch die höheren Bereiche des sozialen Lebens erheben bis
zu den Höhen des geistigen und kulturellen Lebens, das ja in besonders
entscheidendem Ausmaß die Atmosphäre der geistigen Freiheit, das freie Spiel
der Kräfte im freien Wettbewerb benötigt. Und nur auf dem festen Fundament der wirtschaftlichen
Freiheit ist die geistige Freiheit, die Meinungs-, Glaubens-, Forschungs-,
Lehr- und Pressefreiheit gesichert. Der Staat aber hat sich jeder Übergriffe in
das geistige und kulturelle Leben ebenso zu enthalten wie in das eigentliche
Wirtschaftsgeschehen. Die Domäne des Staates ist einzig und allein die
Rechtsordnung, in die auch die beiden grundlegenden Rechtsnormen des
wirtschaftlichen Lebens, nämlich Währungsverwaltung und Bodenrecht gehören.
So ist für uns
Verfechter der Freiwirtschaftslehre die natürliche Ordnung der Wirtschaft nicht
nur Selbstzweck, sondern vor allem Fundament für eine natürliche Ordnung der
Gesellschaft und der Kultur durch Erfüllung der beiden Forderungen: persönliche
Freiheit und soziale Gerechtigkeit.
Dr. Ernst Winkler
(aus Magna Charta der Sozialen
Marktwirtschaft, 1951)
Wer „anderer
Meinung“ ist, sollte sich schnellstens in Behandlung begeben:
Stefan Wehmeier,
18. August 2012