Der folgende
Artikel beruht im Wesentlichen auf "Der Abbau des Staates nach Einführung
der Volksherrschaft" von Silvio Gesell, der heute aktueller ist denn je.
Ich habe einige Formulierungen geändert, um Missverständnisse auszuschließen,
sowie den Text auf das Wesentliche gekürzt und auf die heutige Zeit angepasst:
Vorwort
Die Anhänger des
Staatsgedankens, des Gegenwarts- wie des Zukunftsstaates, erleben zurzeit herbe
Enttäuschungen. Eine natürliche Folge davon ist, dass vielen, die sich nie
Gedanken über den Inhalt des Staatsbegriffes gemacht hatten, der Staat nun zu
einer Frage geworden ist. Und auf der Suche nach einer Antwort beginnen sie den
Staat in seinen einzelnen Funktionen zu zerlegen und zu untersuchen. Das
Ergebnis solcher Arbeit wirkt dann immer recht ernüchternd, indem der Staat
sich dann als eine einfache Organisation zur Sicherung gesellschaftlicher
Gewaltzustände entpuppt, genetisch hervorgegangen aus Schwächegefühlen der
herrschenden Gesellschaft. Nichts Großes findet man im Staatsgedanken, nichts,
was moralische Kräfte ruft, dafür aber vieles, was solche Kräfte abstößt und
zerstört. Und nach solchem Einblick hat man gewöhnlich genug und lässt den oft
lange, liebevoll gepflegten Staatsgedanken fallen, um dann vor der neuen Frage
zu stehen: Ist Akratie möglich?
In der vorliegenden
Schrift wird diese Frage bejaht. Die Anarchisten hatten sie ja schon immer
bejaht. Da sie aber für die anarchische Gesellschaftsordnung, wie sie sich die
Anarchisten vorzustellen pflegen, mit einer großen Mehrheit weitblickender Menschen
rechnen müssen, indem hier sehr hoch auf altruistischen Grundmauern gebaut
wird, konnte die Anarchie keinen Glauben bei all denen finden, die nüchternen
Sinnes die Menschen in ihren Haupttrieben beobachten.
Die Natürliche
Wirtschaftsordnung, wie ich sie als Voraussetzung für den Abbau des Staates
fordere, stellt für ihren Bestand keine neuen Forderungen an den Menschen. Sie
ist vollkommen unabhängig von der kulturellen Entwicklung der Völker. Sie nimmt
die Menschen so, wie sie durch den langen kapitalistischen Auslesevorgang
gezüchtet wurden, vertrackt, geschändet, heruntergewirtschaftet. Freilich, nach
dem Satz, dass Mensch und Umwelt sich wechselseitig beeinflussen, wird der
Mensch durch die von ihm zu schaffende Natürliche Wirtschaftsordnung selber
wieder in hohem Grade umgestaltet werden; aber zum Bestand der akratischen
Ordnung ist es nicht nötig, dass solche Umgestaltung des gestaltenden Menschen
vorhergehe.
So stark der
Einfluss des Kapitalismus auf die Auslese gewesen ist (er ist so stark gewesen,
dass man mit gutem Grund von einer heutigen kapitalistischen Rasse sprechen
kann), so stark wird auch wieder die Natürliche Wirtschaftsordnung die Auslese
aus der Bahn der papiernen Vorrechte in die der angeborenen, vererbungsfähigen
Vorzüge abdrängen. Es ist darum nicht ausgeschlossen, dass im Laufe der
Jahrhunderte der Mensch wieder die Eigenschaften annehmen wird, die zum Ausbau
eines Gemeinwesens nötig sind, wie es sich viele unter den heutigen Anhängern
des Staatsgedankens als Ideal nebelhaft vorstellen. Jedoch wir haben nicht die
Aufgabe, den künftigen Geschlechtern Gesetze vorzuschreiben. Für uns kommt es
darauf an, wirtschaftliche Zustände und ein Gemeinwesen zu schaffen, die auf
die heutigen Menschen zugeschnitten sind, die das Ich, das Fundament des
Gemeinwesens, wieder zu seiner wahren Natur kommen lassen. Was dieser Mensch
dann später tun wird, das ist seine Sache.
Beweggründe, die zum Ausbau des heutigen Staates führten
Der Staat fällt
immer so aus, wie ihn die herrschende Klasse braucht. Liegt diese Herrschaft in
den Händen einer bevorrechteten Minderheit und ist diese dann den Angriffen
einer ewig aufsässigen Mehrheit ausgesetzt, so liegt der Gedanke nahe, die
Machtmittel einer zentralisierten Staatsgewalt (Monarchie, Despotie, Autokratie
usw.) der Aufrechterhaltung der Herrschaft dienstbar zu machen und durch Ausbau
der Staatsbetriebe seinen Einfluss, seine Macht zu mehren. Dann wird der Staat
mit vielerlei Dingen belastet, die ebenso gut, oft mit Vorteil, der privaten bürgerlichen
Tätigkeit überlassen werden könnten. Die Schwäche sucht Stärke in der Anlehnung
(Siehe Krapotkin: Gegenseitige Hilfe.); der Starke aber fühlt sich am stärksten
allein. Der Schwache strebt nach Zentralisation, der Starke nach
Dezentralisation. Die Schwäche wirkt zentripetal, die Stärke zentrifugal. Wenn also
der Staat imstande wäre, Kraft zu erzeugen, so wäre diese Kraft gegen den sie
erzeugenden Staat gerichtet.
Darum war und ist
die Frage: Wie können wir den Staat ausbauen, die Zahl der von uns abhängigen
Beamten und den Einfluss mehren, den die in unseren Dienst gestellte geistige
Elite auf die Volksmassen ausübt – die einzige, jahrtausende alte Sorge der
Bevorrechteten gewesen. Und die Antwort, die die Herrschenden auf diese Frage
fanden, ist der Staat in der Gestalt, wie ihn die Revolution übernommen hat.
Umgekehrt wird natürlich das Interesse am Ausbau des Staates erlahmen und
verschwinden, wenn die Macht auf die Masse übergeht, die sich – dank ihrer
Masse – sicher fühlt und keines Machtzuwachses mehr bedarf. Schon allein dem Trägheitsgesetze
folgend, wird das im Staat "herrschende" Volk (Die Frage ist, wen das
herrschende Volk, die "Demokratie", eigentlich beherrschen soll? Der
Herr hört auf Herr zu sein, wenn die Diener fehlen; Demokratie ist also ein unsinniges
Wort.) danach trachten, den Staat auf die allereinfachste Form zurückzuführen und
alles abzubauen, was nicht durchaus zentralistisch geleitet werden muss, damit
es nicht ewig zu neuen Wahlen, zu neuen Gesetzen und Entschließungen aufgerufen
zu werden braucht. Ich kann mir dann vorstellen, dass, wenn die Demokratie den
Reiz der Neuheit verloren haben wird und Wähler wie Wählerinnen nur mehr mit
dem Aufgebot von Wahltreibern zur Urne geführt werden können, auch die Frage
auftauchen wird, wie man sich von der Bürde dieser lästigen Bürgerpflichten
befreien kann. Die einzige noch mögliche Antwort auf diese Frage heißt dann:
Rückkehr zur Autokratie oder Akratie, d. h.: Abbau des Staates von alle dem,
was dem Staat zu Herrschaftszwecken aufgebürdet wurde.
Vorbedingung für
solchen Abbau des Staates wird immer ein vollkommenes Sicherheitsgefühl sein,
das selbstverständlich nur da aufkommen kann, wo die Macht in der
überwältigenden Mehrheit des Volkes liegt. Solange die Herrschenden noch um
ihre Vormacht bangen und darum an den Ausbau der Macht denken müssen, solange
sie nicht sorglos in den Tag leben können, werden sie natürlich die Machtmittel
der zentralisierten Staatsgewalt nicht entbehren und von einem Abbau nichts
wissen wollen.
Abbau des Staates
setzt also Abbau des Klassenstaates, Übergang der Macht auf die Volksmassen
voraus. Die Klassen sind aber Produkte des aus Zins und Bodenrente bestehenden
arbeitslosen Einkommens. Wer darum vom Abbau des Staates spricht, muss auch den
Nachweis bringen, dass sich das arbeitslose Einkommen abbauen lässt. Diesen Nachweis
erachte ich als in allen Teilen erbracht. Die freiwirtschaftliche Kapitalzins-
und Grundrententheorie lässt keinem Zweifel Raum, dass mit den geforderten
Mitteln Freiland und Freigeld das arbeitslose Einkommen sich spurlos versenken
lässt.
Umfang des staatlichen Abbaus
Man hat den Staat
so oft als notwendiges Übel bezeichnet. Jetzt wollen wir ihn auch einmal als
solches behandeln und von dem Übel nur das behalten, was sich wirklich als Not
wendend erweist. Wir wollen von zwei uns zur Wahl gestellten Übeln, dem
ausgebauten und dem abgebauten Staat, uns das kleinere einmal ansehen und vom
Staat alles das abbauen, was nicht unbedingt von einem zentralen, das ganze
Volk umfassenden Gesichtspunkt aus geleitet werden muss. Überall, wo wir ohne
den Staat auskommen können, wollen wir abbauen. Es wird sich dann zeigen, dass
dieser Abbau bis auf das Verkehrswesen – Geld, Post, Eisenbahnen,
Telekommunikation, Schifffahrt – den gesamten heutigen Staatsbetrieb umfassen
kann. Alles Übrige – Kriegsministerium, Handelsministerium, Kultusministerium,
Justiz usw. – kann man mit Vorteil für die Sache dem Staat abnehmen und den Privaten
und Gemeinden überlassen.
Schule. Dass diese nur mit Nutzen für die Sache
vom Staat getrennt werden kann, geben die zunächst Beteiligten, die von Natur
berufenen Lehrer, die Eltern ohne weiteres zu. Nur die Eltern können das Kind
wirklich verstehen und den Unterricht der Eigenart des Kindes anpassen.
Freilich setzt der Unterricht des Kindes durch die Eltern andere als die
heutigen Wirtschaftsverhältnisse voraus. Eine Fabrikarbeiterin hat natürlich weder
die Zeit, das Kind zu unterrichten, noch es überhaupt kennen zu lernen. Für das
Proletariat kann es nur eine Schule geben, die Staats- oder Gemeindeschule.
Sobald es aber gelingt, das Proletariat dadurch zu vernichten, dass jedem
Arbeiter das Recht auf den vollen Arbeitsertrag verschafft wird, kann auch jede
Mutter sich wieder dieser edelsten der Mutterpflichten widmen – und dann fällt
die Notwendigkeit der Schule weg. Denjenigen Müttern aber, die sich unfähig fühlen,
die Kinder zu unterrichten, wird es immer noch freistehen, sich zusammenzutun
und selbst eine Schule zu gründen. Wenn der Staat keine Steuern mehr für das
Schulbudget erhebt – in der Regel durch indirekte Steuern – dann können die
Mütter auch das Geld für die eigene Schule aufbringen, und zwar ohne neue
Belastung, insofern sie ja nun auch von den Schulsteuern befreit sind.
Wird man den
Müttern die Grundrenten als Kinderrenten ausrichten, so bildet die finanzielle
Seite überhaupt keinen Grund mehr, warum wir den Abbau des Staates nicht auf
die Schule übertragen sollen.
Hochschulen. Auch hierin soll der Staat entlastet
werden. Das mit politischem Gift angefüllte Ministerium für Schule, Kultus,
Volksbildung, Wissenschaft soll restlos abgebaut werden. Bürger, Eltern,
Gemeinden mögen sich zusammentun und den Unterhalt der Hochschulen bestreiten.
Wie manche Eltern heute bestimmte Finanzgeschäfte abschließen, die ihren
Kindern eine Aussteuer sichern sollen, so werden die Eltern ähnliches tun für
Schulen und Hochschulen, sobald der Staat vom Schulwesen entlastet werden wird.
Auch sei hier bemerkt, dass mit dem Abbau des Staates das so genannte "Berechtigungswesen"
wegfällt, dass dann das Studium, das nur der staatlichen Aufteilung wegen
betrieben wird, unterbleibt. Man wird dann auch keine "Studenten"
mehr haben. Jeder Mensch studiert dann, jeder sucht sich ein Fach aus, für das
er sich besonders begabt wähnt. Und dann hat man es nicht so eilig. Das Ziel,
die "abgeschlossene Bildung", mag man dann mit dem Lebensabschluss
zusammenfallen lassen. Man wird also sein ganzes Leben studieren.
Man arbeitet und
studiert, in gesunder Abwechslung. Und wenn, wie es für den abgebauten Staat
Voraussetzung ist, die Arbeit vom Schmarotzertum befreit sein wird, so wirft
diese einen so bedeutenden Ertrag ab, dass der Arbeiterstudent sehr wohl für
die bescheidenen Lebensansprüche seiner Lehrer sorgen kann. Die wahre
Wissenschaft braucht wahrhaftig den Staat nicht. Die Hochschulen dürften dann
wohl am besten mit Produktionsbetrieben verbunden werden, wo der Student in
verringerter Arbeitszeit seinen und seiner Lehrer Lebensunterhalt schafft. Kein
Mensch kann ununterbrochen geistige Übungen treiben. Wenn die Studenten täglich
4 Stunden einer Erwerbsarbeit widmen, so wird ihnen das sicherlich geistig und
seelisch weniger schaden als die gleiche Zeit am Biertisch. Und was sie dann
etwa in 10 Jahren nicht schaffen können, das werden sie halt in 11, in 15, in
50 Jahren schaffen. Der abgebaute Staat lässt jeden nach seiner Weise
studieren. Fort also mit der staatlichen Hochschule.
Ministerium für Handel und Industrie. Eine perverse
Institution, geschaffen, um ein ganzes Volk zu vergiften. Was wollten die
Männer aus dem Handel, der Industrie und der Landwirtschaft im Vorzimmer des
Ministers für Handel und Industrie? Ach, sehr einfach war alles, was dort
besprochen wurde. Eine "Animierkneipe für höhere Zölle", das war das Ministerium
für Handel und Industrie. Abbauen, das ist das einzige, was man hier sagen
kann.
"Den Staat
treibt es, wie jede Organisation, zur Entwicklung seiner selbst" (Herbert
Spencer). Er strebt danach, sich immer unentbehrlicher zu machen. Kein Beamter
wird jemals den Abbau des Staates vorschlagen. Der ehrgeizige Beamte, der
innerhalb seines kleinen Ressorts keinen Wirkungskreis findet, sucht
selbstverständlich diesen Wirkungskreis zu erweitern. Natürlich ist das beim
Minister für Handel und Industrie auch der Fall. Er sucht daher alle Dinge zu
verwirren, undurchsichtig zu machen, um dann die selbstgeschaffenen gordischen Knoten
zerhauen zu können und zu zeigen, wie unentbehrlich er ist. Kein Minister für
Handel und Industrie wird jemals Interesse am Freihandel bekunden, nein, keiner
hat jemals auch nur daran gedacht, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt. Der
Minister für Handel und Industrie betreibt Schutzzollpolitik, die Politik, die
unser Volk verdorben, verhetzt, mit der ganzen Welt verfeindet, uns den Krieg
mit der ganzen Welt gebracht hat. Wir wollen dieses Ministerium abbauen, spurlos
abbauen. Den Staatsbetrieb scharf von allen Privatinteressen trennen. Die
Gewerbetreibenden wissen ihre Interessen auch ohne den Staat zu vertreten. Schalten
wir den Staat vollkommen aus Handel und Gewerbe aus, so werden sich die
Gewerbetreibenden zusammenschließen (Handelskammern), um das alles zu tun, was
der Einzelne nicht allein kann. Ist kein Ministerium für Handel, Industrie und
Landwirtschaft mehr da, so sind auch keine Vorrechte mehr zu verschenken. Die
agrarischen Gelüste, die sich in dem Verlangen nach immer höher zu schraubenden
Zöllen äußerten, können nirgends mehr lokalisiert werden. Umstellt von Räubern
und Dieben, konnte der Minister für Handel und Industrie niemals sachliche und
vom Allgemeinwohl diktierte Wirtschaftspolitik treiben. Und wenn er sie hätte
treiben wollen, so hätte er bald gefunden, dass er dann gehen, den Handel der
Freiheit überlassen müsste. Er war dann immer Spielball der Parteien.
Wir bauen also ab;
weg mit dem Minister für Handel, Industrie und Landwirtschaft. Wir schaffen
freie Organisationen für die gemeinsamen Interessen der Gewerbetreibenden.
Ministerium für soziale Angelegenheiten. Es ist für jeden
gesorgt, der für sich selbst sorgt. Sagen wir es jedem, auch den Kindern schon,
das, wenn sie nicht für sich selber sorgen, niemand für sie sorgt, auch nicht
der Minister für soziale Angelegenheiten. Diesem ergeht es wie jedem Minister.
Er freut sich, wenn der Kreis seiner Aufgaben wächst. Eine Krise, die die
Arbeiter zu Tausenden auf die Straße setzt, – das ist sein Element. Darum kommt
es ihm gar nicht darauf an, den Ursachen des sozialen Drucks nachzuspüren. Kein
Minister für soziale Angelegenheiten hat sich jemals für das Zinsproblem, das Lohnproblem,
das Geldproblem, das Grundrentenproblem, das Krisenproblem interessiert. Er ist
ja Minister, um die Folgen, nicht um die Ursachen zu bekämpfen. Denn ein Minister,
der den Ursachen nachgeht, bekämpft sich selbst, begeht Selbstmord.
Das Dasein eines
Ministers für soziale Angelegenheiten erweckt im Volk den Glauben, dass auf
diesem Ministerium irgendetwas gegen das Massenelend getan wird, dass man dort
schwitzend über das Zinsproblem brütet, dass dort von früh bis spät die Beamten
über die Ursachen der Krisen, der Arbeitslosigkeit debattieren. Das gute Volk!
Wenn es wüsste! Ja, wenn es wüsste, dass im Ministerium für soziale
Angelegenheiten nur ein Häufchen Bürokraten sitzt, die nur eine Sorge haben, –
nämlich eines Tages für überflüssig gehalten zu werden, – dann würde es das
Problem der Armut selber in die Hand nehmen und die Ergründung des Schmarotzertums
zum Gegenstand eines mit Ernst und gutem Willen zu betreibenden allgemeinen
Studiums machen.
Übrigens, in der
Freiwirtschaft, wie wir sie uns vorstellen und wie sie sich unter dem Freiland-Freigeld-System
notwendig entwickeln muss, ist mit dem Recht auf den vollen Arbeitsertrag die
soziale Frage gelöst – auch für den Minister für soziale Angelegenheiten. Also
auch hier wollen wir abbauen.
Ministerium des Äußeren. "Besser gar
keines, als ein solches Ministerium" wird mancher biedere Deutsche während
des Krieges wiederholt ausgerufen haben. Äußere Angelegenheiten sind
öffentliche Angelegenheiten. Behandle man sie danach! Die Presse, die Öffentlichkeit
ersetzt dann dieses Ministerium. Alles, was ein Volk dem anderen zu sagen hat,
kann man ihm durch den Anzeigenteil der Zeitung, durch eine Postkarte, durch Telefon
zur Kenntnis bringen. Gesandte, Konsuln, Botschafter werden auf alle Fälle überflüssig,
sobald die Geheimdiplomatie, die Lügenfabrik einmal zertreten ist.
Mit der Freiland-
und Freihandel-Erklärung werden alle Zankäpfel gründlich aus dem Verkehr der
Völker beseitigt – die Möglichkeit fehlt, dass es noch zu "diplomatischen Zwischenfällen"
komme – solange das zum Menschenrecht erhobene Freilandrecht unangetastet
bleibt. Dafür aber, dass dies nicht geschehen kann, muss der im Freiland
geeinte Völkerbund sorgen. Ein Volk, ein Staat, der das Freilandgesetz
antastet, sticht in ein Wespennest, hat es mit der ganzen Welt zu tun.
Ministerium für Medizinalangelegenheiten. In dieser Sache
hat der Staat sicher – wie überall – mehr geschadet als genützt. Das Dasein
eines Ministeriums für Volksgesundheit lullte das Volk in den Glauben ein, dass
von Staats wegen alles geschähe, was zur Volksgesundheit gehört, und dass es
selbst nun nichts zu tun habe, als alle paar Jahre zur Wahlurne zu gehen. Aber
es geschah in Wirklichkeit nichts. Obschon den Medizinalbehörden immer alle
gewünschten Kredite bewilligt, alle gewünschten Vollmachten gegeben wurden,
taten sie nicht den geringsten Schritt zur Bekämpfung der grausigen Seuche,
genannt Alkoholismus, Frauenarbeit in den Fabriken, Geldheiraten, Tabak usw.
Sie begnügten sich, die Folgen dieser Übel zu behandeln, an ihre Wurzel – den
Zins – wagten sich die im Dienste des Zinses stehenden Staatsknechte nicht
heran. Um nur ja den Zins zu schonen, um die Interessen ihrer Brotherren nicht
zu schädigen, sahen die Medizinalbehörden tatenlos die Säuglingsmassaker, denen
300.000 alljährlich zum Opfer fielen, sahen den furchtbaren Raubbau am Volkskörper,
dessen Früchte die Kliniken, Krankenhäuser, Heilstätten, Toll- und Zuchthäuser
sind.
Sobald der Mensch
den Glauben an eine göttliche Vorsehung verloren hat, sucht er sein Geschick in
die eigene Hand zu nehmen, und sobald wir den Glauben an die staatliche
Vorsehung abgetan haben, werden wir uns besinnen, was wir, was jeder einzelne
zu tun hat, um die durch den Staat pervertierte Zucht des Menschengeschlechtes
wieder auf die ansteigende Bahn zu leiten. Dann wird der Alkoholismus, die
Tuberkulose, die Syphilis, durch das wieder erwachte Verantwortlichkeitsgefühl
eines jeden einzelnen Menschen bekämpft und zur Strecke gebracht werden. Ohne
den Glauben an das Scheusal, das wir Staat nennen, wäre es nie zu der heutigen
Entartung gekommen.
Also: Abbau, auch
hier Abbau. Ob dieser Abbau sich auch auf die Bekämpfung aller Seuchen, also
mit Einschluss der Cholera, Pest, Viehseuchen usw. auszudehnen hat, mag manchem
vielleicht zweifelhaft erscheinen. Eine Zentralgewalt, die gegebenenfalls
schnelle Entschlüsse fassen kann, mag in der Seuchenbekämpfung gute Dienste
leisten. Jedoch auch hier können die einzelnen Gemeinden und die medizinischen
Körperschaften den Staat wohl gut ersetzen, weil sie an Ort und Stelle die
nötigen Maßregeln noch schneller ergreifen können, als die oft weit abgelegene
Zentralbehörde. Wir bleiben also dabei: Trennung des Staates von allen Medizinalangelegenheiten.
Kriegsministerium. Die Staaten haben umso mehr Reibungsflächen,
je mehr sie ausgebaut und dadurch differenziert sind. Mit jedem Abbau der
Staaten nehmen die Reibungsflächen ab – namentlich in Bezug auf das
Handelsministerium. Zwischen zwei Staaten z. B., die durch keinen Grenzzoll
getrennt sind, wird sich wohl nie Gelegenheit zu ernsthaften Reibereien bieten.
Solche Staaten fließen dann mehr oder weniger ineinander über. Und je mehr wir
den Staat abbauen, umso mehr wird das der Fall sein. Zwei Eiskristalle mag der
Wind gegeneinander prallen lassen, sie stoßen und verletzen sich gegenseitig;
zwei Tautropfen, die derselbe Wind in Berührung bringt, – die gehen in Liebe
ineinander über. Die Staaten sind solche verhärteten, leblosen, starren,
seelenlosen Wesen, die nur in Harnisch und Panzer zum Nachbar reden können –
und je mehr der Staat ausgebaut ist, umso schwerer wird der Panzer, die
trennende feindliche Kruste. Handelt es sich dazu noch um einen Klassenstaat,
den vor Gift strotzenden Klassenstaat, der den äußeren "Feind" dazu
braucht, um die Aufmerksamkeit des Volkes vom inneren Feind abzulenken, so
werden Kriege fast unvermeidlich.
Im Mittelalter hat
es keine Kriege gegeben, einfach weil es damals keine Staaten gab. Die Völker
waren zerlegt in Grundherrschaften, Grafschaften, Ritterschaften, Bistümer, Abteien,
Reichsstädte, alle von geringem Umfang, und allen diesen Lebewesen lag der
Gedanke fern, sich auf irgendeine Weise von den Nachbarn und der Welt abzuschließen.
Grenzen im heutigen Sinne gab es nicht. Daher auch keine Reibungsflächen und
keine Kriege. (Die Fehden, die der Rauflust Genüge leisteten, richteten sich
gegen persönliche Feindschaft.)
Bauen wir unsere
modernen Staaten ab, so verschwinden im gleichen Maße die Reibungsflächen und Zankäpfel,
und in demselben Maße, wie das geschieht, werden wir daran gehen können, uns
der Atem raubenden Panzer und Rüstungen zu entledigen.
Ich habe gezeigt,
dass der innere Friede, die Zertrümmerung des vor Gift strotzenden Klassenstaates,
die Voraussetzung für den Abbau des Staates ist. Eine Ordnung, die in sich
gesund ist, wo es keine Vorrechte gibt, hat auch keine Feinde, auch keine
Außenfeinde. Die wärmenden Strahlen der Gerechtigkeit, die ein abgebauter
Klassenstaat ausströmt, bringen den Eispanzer des Völkerhasses zum Schmelzen.
Sie müssen dies tun, ohne den Glauben, dass sie es vermögen, könnte ich nicht
leben. Sieghaft muss die Gerechtigkeit alles, was die Völker und Menschen
trennt und verfeindet, zum Schmelzen bringen. Bauen wir also unseren Staat ab,
nachdem wir die Vorbedingungen für den inneren Frieden getroffen haben. Bauen
wir sorglos auch das Waffenmonopol des Staates, das Kriegswesen ab. Tun wir das
im Vertrauen auf die Sieghaftigkeit der Gerechtigkeit. Warten wir nicht darauf,
dass andere mit dem Beispiel vorangehen. Tun wir den ersten Schritt. Wir werden
es nicht bereuen. Sieghaft muss sich der Friedensgeist die Welt erobern. Wenn
das nicht möglich wäre, so lohnte sich ja das Leben nicht. Traurige Tröpfe,
Feiglinge, die keinen Glauben an die Menschheit hegen können, und dennoch das
Leben ertragen! Weg mit den Waffen! Bauen wir ab! Weg mit dem
Kriegsministerium!
Wir hatten dem
Kriegsgeist, dem Militarismus, vertrauend unsere Sache auf die Macht gestellt.
Wir schufen das beste Heer, das tapferste Heer, das größte Heer. Und dieses
beste, größte und tapferste Heer hat uns verraten, hat uns ins Unglück
gestürzt. Sollen wir nun, da uns das große Heer nichts nützte, sondern nur schadete,
ein kleines Heer an dessen Stelle setzen? Wie töricht das wäre! Nein, tun wir
das nicht; ganze Arbeit wollen wir hier tun. Nützte uns das ganze Heer nichts,
so wird uns das halbe noch weniger nützen. Stellen wir uns mit Entschlossenheit
auf den Gedanken des gewaltlosen Friedens ein. – Weg mit den Waffen! Liebe und Gerechtigkeit
gegen alle Menschen sei fortan unsere Rüstung, die feste Burg des Friedens. "Um
ihre Feinde zu zerstreuen, braucht die Sonne nur zu scheinen", sagt
Hebbel. Handeln wir wie die Sonne. Lassen wir Deutschland scheinen, in Liebe
und Gerechtigkeit strahlen, so werden wir alle unsere vermeintlichen Feinde zerstreuen,
– ohne Heer, ohne Kriegswaffen, ohne zum Völkerhass aufzurufen und Gott um
Hilfe gegen unsere "Feinde" anzuflehen.
Recht und Gericht. Nichts hat der Gichtkrücke der
herrschenden Klasse, dem Staat, mehr Ansehen verschafft, als die Verstaatlichung
und Bürokratisierung des Rechts und des Gerichts, die Macht, Strafen zu
verhängen und sie nach Willkür zu bemessen. Diese Verstaatlichung des Gerichts
fordern nun aber auch alle, die sich in jahrelanger Arbeit beruflich zum
Staatsknecht ausgebildet haben und dieser Ausbildung erhebliche Geldopfer
brachten. Ich verzichte darauf, alle diese Leute von der Notwendigkeit zu
überzeugen, selbst den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen.
Der Staat kann nur
nach Formeln arbeiten. Selbst Maschine, kann der Staat nur Maschinenarbeit
leisten. Recht und Gericht können wir aber keiner Maschine überlassen. Darum
auch hier Abbau! Warum sollten wir den Weg zur Gerechtigkeit immer nur über den
Staat und seine schmutzigen Nebeninteressen finden? Der Staatsknecht blinzelt
vielleicht zur Gerechtigkeit hinauf, da er aber noch einem anderen Herrn dient,
muss er vor ihren Strahlen das Auge verschließen. Wir aber wollen der
Gerechtigkeit gerade ins Gesicht schauen und erfahren, was sie ist, um danach
das Recht zu gestalten und die Bösewichte zu strafen.
Was ist
Gerechtigkeit? Nichts anderes als die Verneinung jedes Vorrechts. Die vollkommen
gleiche äußere Ausrüstung für den Wettbewerb der Menschen, der in der
Gesellschaft jedem seine Stelle anweist – das ist die von der Natur gewollte
Gerechtigkeit, die zum wahren Menschsein führt. Diese vollkommen gerechte
äußere Ausstattung der Menschen fordert Freiland. Freiland ist Inhalt und
Ausdruck der Gerechtigkeit. Der Staat und das Recht wurden aber geschaffen, um
das Gegenteil von Freiland, um das Raubland zu schützen. So konnten denn auch
nur Raub und Unrecht die Grundlage unseres Rechtes geben.
Gegen die
Entstaatlichung des Rechts führt man an, das Recht solle von einem
einheitlichen Gesichtspunkt geleitet werden, man könne es nicht der Willkür der
einzelnen Gemeinden überlassen. Ich sehe das nicht ein. Statt eines Gesichtspunktes
wollen wir für die Betrachtung des Rechts einen großen Gesichtswinkel schaffen,
dessen Grundlinie aus den Augen des ganzen Volkes besteht. Jede Gemeinde soll
ein eigenes, ganz unabhängiges Strafrecht haben und es ausbauen, so wie sie es
versteht. So schaffen wir die zum Fortschritt nötigen Vergleichspunkte. Es kann
wirklich nichts schaden, wenn niemand im voraus weiß, welche Strafe ihn für
bestimmte Verbrechen erwartet, wenn man in Berlin die Einbrecher zu ihrer
Besserung mit einer Rente ausstattet, in Hamburg für das gleiche Verbrechen die
Prügelstrafe einführt.
Die Entstaatlichung
des Rechts- und Gerichtswesens kann man sich ungefähr wie folgt denken: Jede
Gemeinde hat ihr eigenes bürgerliches Gesetzbuch, ihr Strafrecht, ihr
Handelsrecht.
Gemeinden, die sich
die Kosten nicht leisten können, eine eigene Gesetzgebung auszuarbeiten, lehnen
sich in allen Rechts- und Gerichtsfragen den Gesetzen einer anderen Gemeinde
an. Nach diesen selbstgewählten Satzungen wird dann verfahren. Die Zwangsmittel
der Gemeinde verschaffen diesen Gesetzen Kraft. Neben diesen Gesetzbüchern
bestehen noch private Friedens- oder Schiedsgerichte, an die sich die Bürger
wenden können, wenn sie das Gemeindegericht nicht anrufen wollen. Besonders
begabte Salomone geben auch eigene Rechts- und Gerichtsbücher heraus, die von Privaten
in ihren Verträgen als bindend für sie bezeichnet werden. Auf den Briefköpfen,
in den Preislisten der Kaufleute werden diese Rechtsbücher genannt. Wenn vorher
nichts vereinbart ist, verfällt der Prozess dem Rechtswesen der Gemeinde. Die
privaten Rechts- und Gerichtsbüros sind ganz auf die Kundschaft angewiesen, wie
die Ärzte und Rechtsanwälte. Sie haben Vorteil davon, viel Kundschaft
anzulocken, und dieses können sie nur, wenn sie unparteiisch Recht sprechen. So
werden durch den Wettbewerb neben die Meistersänger und Meisterchirurgen noch
Meisterrichter treten, die völlig unabhängig wie die Rabbiner für die Juden,
nach freiem Ermessen urteilen. Der Ruf einzelner dieser Richter wird, wie der
Ruf unserer Chirurgen sich über die ganze Welt verbreiten. Wie sie von fernher
zu Salomon eilten, in schwierigen Rechtsnöten, so werden sie zu unseren neuen
Salomons kommen – von Asien, Libyen, Ägypten. Und wehe denen, die sich solchem
Urteilsspruch entziehen!
Das Strafgericht
(Kriminalgericht) liegt in den Händen der beleidigten Bürgerschaft. Ohne "Vorschriften",
ohne sich nach Präzedenzfällen zu richten, nach freiem Ermessen wird gerichtet.
Zur Sicherung kann man jeden Fall zwei oder drei vollkommen unabhängige
Gerichtshöfe passieren lassen und überlässt dem Sträfling die Wahl unter den
über ihn verhängten Strafen. Besondere zum kaltblütigen, geschäftsmäßigen Töten
abgerichtete Scharfrichter gibt es nicht. Die Richter sind zugleich
Scharfrichter. So ist damit endgültig die Todesstrafe abgeschafft.
Recht und
Gerechtigkeit, die edelste aller geistigen Disziplinen, wird so zum ehernen
Inventarstück der allgemeinen Denktätigkeit werden, und an diesen hohen und
höchsten Aufgaben werden sich die Bürger zu höheren Menschen hinaufarbeiten.
Dem Bürger werden da Aufgaben gestellt werden, für die er sich nur durch ernsthaftes
Studium vorbereiten kann. "Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zielen."
So wird das
Rechtsempfinden wieder lebendig werden; dem Organ, das uns befähigen soll, alle
Abweichungen von der senkrechten Linie der Gerechtigkeit wahrzunehmen, wird
wieder Blut zugeführt werden. Es wird sich entwickeln, schärfen. Das Organ, das
im Gesellschaftsleben das ist, was der Kompass für den Seefahrer, wird uns den
Weg zeigen durch die Nacht der Atavismen und der Vorurteile, wird dem
Fortschritt die sonnige, breite Heerstraße öffnen.
Wir haben den Staat
mit der Pflege der Schule, des Medizinalwesens, des Heerwesens, des Handels,
der Kunst und Wissenschaft betraut und alles hat er den verbrecherischen
Privatinteressen der herrschenden Klasse angepasst, verdreht und verbogen.
Er eignete sich
auch die heiligsten Aufgaben der Menschheit an – das Urteil über Recht und
Unrecht. So ging uns wegen Mangel an Übung das Organ für Gerechtigkeit, das
Gewissen verloren. Dem Staat, der plumpen Maschine, opferten wir auch noch das
Wertvollste im Menschen, die ewige Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die einzige Hoffnung
auf das Paradies – und spurlos verschlang es das Scheusal.
Unser Staat war das
für uns denkende Wesen. Wir sahen, dass alljährlich 300.000 Säuglinge, liebe,
zarte Wesen, die ihre Händchen nach uns um Hilfe streckten, langsam
dahinsiechten, weil die Mütter in die Fabriken mussten. Wen rührte das? Wo
blieb unser Sinn nach Gerechtigkeit? Der Staat hatte ihn beschlagnahmt. Wir
sahen, dass breite Schichten unseres Volkes unter den traurigsten Verhältnissen
ohne Unterlass bis zum Lebensende arbeiten mussten, nur um den Unterhalt einer
hochmütigen Schar von Prassern zu schaffen. Niemand entrüstete sich, wir schwiegen.
Wir hatten dem Staat ja unsere Seele, das Gerechtigkeitsorgan, unser Gewissen
übergeben. Die seelenlose Maschine hatte uns entseelt. Staat, du Scheusal, Kind
der großen Hure, des Landraubes, des Privatgrundbesitzes! Wir wollen dich
zertreten. Weg mit dem Ministerium für Recht und Gericht!
Zivilstand. Der Staat hat auch die allerzarteste Blüte
des Menschenlebens mit Beschlag belegt. Die Staatsmaschine greift in das
Liebesleben ein. Er führt, ähnlich wie der Tierzüchter ein Stallbuch, das er
Zivilstandsregister nennt und erklärt alle Ehen ungültig, die nicht in diesem Buch
eingetragen werden. Die missglückten, von ihm selbst geschlossenen Ehen, hält
er gewaltsam zusammen, indem er der Ehescheidung Hindernisse in den Weg legt.
So verstößt der Staat gegen den in jedem Menschen lebendigen tiefen Glauben,
dass nur aus einem durch nichts anderes als Liebe vereinten Paar normale,
glückliche, harmonische Menschen entspringen können. Unzucht ist es, nichts
anderes, was der Gräuel hier betreibt. Zerrbilder des Menschen entstehen aus
solchen Zwangsverhältnissen, Material für Toll- und Zuchthäuser, die oft genannten
Vielzuvielen.
Das Eingreifen des
Staates in die Ehe hat zur notwendigen Folge, dass das Verantwortlichkeitsgefühl
des Menschen in Bezug auf das Liebesleben abgestumpft wird. Die heiligsten und
wichtigsten Triebe, die Kräfte, die uns gebildet, denen wir den Aufstieg aus
dem Tierzustand verdanken, die werden durch das Dazwischentreten des Staates
entnervt. Wenn der mit einem Ministerium für Volksgesundheit ausgestattete Staat,
der uniformierte Staat, jede Ehe, auch die ungeheuerlichste Interessenehe,
gesetzlich anerkennt, dann müssen die natürlichen, das Liebesleben leitenden
Triebe für die Nachkommenschaft ohne Bedeutung sein. Genau wie beim Alkoholismus
tötet die Autorität des Staates das Gefühl der Selbstverantwortung in dieser
wichtigsten aller menschlichen Handlungen. Der Glaube an den Staat lässt uns
sündig werden. Was der Staat duldet, ist erlaubt, sagt der auf den
Staatsschulen herangebildete Mensch, und was erlaubt ist, muss auch züchtig
sein.
Wir wollen den
Staat abbauen. Das Liebesleben ist ureigenste Angelegenheit des Mannes und der
Frau. Schaffen wir das Zivilstandsregister ab – es hatte ja doch nur für die
Forschung nach Erbtanten Bedeutung. Wer die Zivilstandesregister beibehalten möchte
um des Stammbaumes wegen, mag für sich einen solchen anlegen. Seine ureigenste
Sache ist es. Mir aber kann es einerlei sein, ob Schulze von Krause oder Müller
abstammt. Weg mit dem Staat.
Jetzt hat der Staat
zu seiner eigenen Stärkung den Frauen das Wahlrecht verliehen. Welches
Wahlrecht? Welche Wahl käme für eine Frau wohl in erster Linie in Betracht? Die
Frau muss den Mann, den Vater ihrer Kinder, frei wählen können. Ohne durch den
Staat, ohne durch wirtschaftliche Rücksichten sich auf den Weg der Unzucht abdrängen
zu lassen. Das große, edle, zur menschlichen Weiterentwicklung führende Wahlrecht,
das ist wahres Frauenwahlrecht. Diesem Recht aber stehen der Staat und die von
ihm geschützten wirtschaftlichen Zustände im Wege. Weg mit dem Staat; er ist
der Zerberus, der uns das Tor versperrt zum Paradies.
Damit wäre der
Staat abgebaut bis auf seine Grundmauern, das Verkehrswesen – Geld, Eisenbahn,
Kanäle, Telekommunikation, Schifffahrt, Flugwesen – alle Wesen, deren
Lebenstriebe gegen alle Grenzhindernisse gerichtet sind, deren Antennen die
Welt umspannen. Das Verkehrswesen kennt keine Rasse, keine Religion,
Geschichte, Sprache, Privatinteressen der Staatenlenker. Immer ist es bestrebt,
seine Stränge mit denen der ganzen Welt in Verbindung zu bringen, zu verlöten.
Damit enthüllt sich uns auch der wahre Trieb des imperialistischen Gedankens,
des einzigen edlen Zuges der Politik. Für den Verkehr haben alle Grenzen immer
nur provisorischen Charakter. Immer strebt der Verkehr nach Durchbruch der
Grenzen; der wahre, große, erlösende Imperialismus geht immer nur vom Verkehr
aus. Darum kann es auf die Dauer auch nur einen Staat geben, ein Panimperium,
das selber keine Grenzen mehr hat, weil es die Welt umspannt. Für zwei Staaten
ist kein Raum auf dieser Erde. Ich oder du! Die Staaten werden und müssen immer
zusammenstoßen, bis die sie scheidenden Verkehrsgrenzen fallen. Dieser
Zusammenstoß führt bei Staaten, denen ein in sich abgeschlossenes
Wirtschaftsgebiet als Ziel vorschwebt, zwangsläufig zu Kriegen, zu Völker- und
Brudermord. Zwischen abgebauten Staaten dagegen, wo vom Staat nichts bleibt als
das Verkehrswesen, wird solcher Zusammenstoß einfach zu einem Zusammenfluss, zu
einer Hochzeit wie bei zwei nach Vereinigung strebenden liebenden Wesen. Auch
darum wollen wir abbauen. Allgemeiner Abbau der Staaten – das ist die wahre
Formel des Völkerbundes.
Nach dem Zweck des
Staates forschte man bisher vergeblich. Keine der vielen Zweckbestimmungen des
Staates deckte sich mit dem Wesen des Staates. Namentlich wenn man von "völkischen"
Gedanken ausging, verwickelte man sich in unlösbare Widersprüche. Am besten war
schließlich die etwas nüchterne Definition: "Anstalt für eine zwangsweise
Einziehung des arbeitslosen Einkommens". Aber diese Bezeichnung setzte
soviel politische Witterung voraus, dass sie nur ganz selten rückhaltlos
anerkannt wurde.
Jetzt kennen wir
den Zweck des Staates. Nachdem wir ihm alle Hüllen abnahmen, die Nebenzwecken
dienten, erkennen wir im Staat einfach eine Organisation für die Förderung des
Verkehrs.
Silvio Gesell, 1919
- 1921
Es muss betont
werden, dass hier nicht eine Utopie beschrieben wird, sondern der echte und
eigentliche Beginn der menschlichen Zivilisation! Die Natürliche
Wirtschaftsordnung, welche die "hohe Politik" (Machtausübung)
überflüssig macht, wäre schon damals zu verwirklichen gewesen, wenn es früher
gelungen wäre, die Religion (Machterhalt) zu erklären und damit wegzuerklären:
Das Jüngste Gericht
Das Jüngste Gericht
Stefan Wehmeier,
2012