Samstag, 18. August 2012

Persönliche Freiheit und Sozialordnung


Der folgende Vortrag, der auf dem Bundestag des Freiwirtschaftsbundes am 9. November 1951 in Heidelberg gehalten wurde, sei allen „modernen“ Politikern dringend empfohlen, die schon lange nicht mehr wissen, was die Soziale Marktwirtschaft ist, die nie verwirklicht wurde und heute verwirklicht werden muss, bevor es zur ansonsten unvermeidlichen, größten anzunehmenden Katastrophe der Weltkulturgeschichte kommt:  


Mitten durch Deutschland geht der unheilvolle und verhängnisvolle Riss, der unsere ganze Welt in zwei feindliche Hälften zerspaltet. In der gegenwärtigen Versammlung der UN wird darüber beraten, ob dieser Riss noch heilbar ist, oder ob endgültig Ostdeutschland vom großen Machtblock des Ostens verschlungen, Westdeutschland in das Verteidigungssystem des Westens eingegliedert werden soll. Nur zögernd und widerstrebend fügt sich das deutsche Volk der von den Westalliierten und von der eigenen Regierung vertretenen Logik über die Notwendigkeit einer eigenen eindeutigen Stellungnahme und Parteinahme und eines eigenen Verteidigungsbeitrages im gefährlichen Spannungsfeld dieser weltpolitischen Blockbildung. Das deutsche Volk ist aufgerufen, die unverlierbaren Werte der westlichen Demokratie, allen voran die persönliche Freiheit, gegen die tödliche Bedrohung aus dem Osten zu verteidigen. – Aber ist es wirklich Freiheit, was der Westen ihm bieten kann? Ist es auch die so viel beredete und so oft verheißene Freiheit von Sorge und Not? Wünschen sich nicht die meisten Menschen auf Grund bitterster Erfahrungen lieber Sicherheit statt Freiheit, Sicherung ihres Lebens, ihrer Arbeit, ihres Auskommens in einer annehmbaren Sozialordnung, die der Liberalismus ihnen bis heute immer schuldig geblieben ist?

Vor der politischen Entscheidung, in die das deutsche Volk gestellt ist, steht die soziale Frage. Nicht nur Deutschlands Schicksal, sondern auf weite Sicht das Schicksal unserer Welt, hängt ab von der Frage: Ist das soziale Problem lösbar im Rahmen des westlichen Liberalismus? Kann eine haltbare Sozialordnung geschaffen werden unter Wahrung der persönlichen Freiheit?

So liegt der weltpolitischen Spannung zwischen Ost und West noch eine andere Spannung zugrunde, die sich ebensosehr auf dem Feld der Innen- wie der Außenpolitik auswirkt: die Spannung zwischen Liberalismus und Sozialismus. Entspringt sie aus einem notwendigen und unvermeidlichen Gegensatz? Oder besteht die Möglichkeit einer Aussöhnung zwischen den beiden Forderungen der persönlichen Freiheit und der Sozialordnung?

Mit dieser schwerwiegenden und bedeutungsvollen Frage wenden wir uns zunächst an die Geschichte und erhalten von ihr die folgende Antwort. Ursprünglich, nämlich in der Geburtsstunde des Liberalismus, stand dieser keineswegs im Gegensatz zum Sozialismus. Im Gegenteil, mit der Parole „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ erstrebte die aufkommende liberalistische Bewegung zur Zeit der französischen Revolution die Befreiung gerade der gedrückten und unterdrückten, der ausgebeuteten Volksschichten und damit einen Ausgleich der untragbar gewordenen sozialen Unterschiede und Spannungen. Politisch erstrebte der Liberalismus die Sicherung der persönlichen Menschenrechte, der Freiheitsrechte des einzelnen gegenüber dem bis dahin absolutistischen Staat, die Einschränkung der Staatsmacht durch konstitutionelle Verfassung und die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Wirtschaftlich erstrebte er die Freiheit des Handels und Gewerbes, des Kaufens und Verkaufens, der Vertragsschließung und der Preisbildung, der Wahl von Beruf, Wohnung und Arbeitsplatz. Aber eben diese wirtschaftliche Freiheit schuf im Verlauf der weiteren Entwicklung neue soziale Spannungen an Stelle der überwundenen alten, wirtschaftliche Vormachtstellungen an Stelle der politisch und rechtlich verankerten alten Standesvorrechte. Die Ausbeutung blieb; nur die Träger und die Methoden der Ausbeutung hatten gewechselt. Die politische Macht wurde abgelöst durch die wirtschaftliche Macht des Monopolbesitzes und des Kapitals.

Gegen diese Entartung der liberalistischen Entwicklung erstand die sozialistische Gegenströmung. Sie befürwortet eine Beschränkung der persönlichen Freiheit zu Gunsten der Gesamtheit und insbesondere zu Gunsten der wirtschaftlich schwächeren, sozial tiefer stehenden Bevölkerungsschichten. Über die persönliche Freiheit des einzelnen stellt sie die Sozialordnung des Ganzen; sie erstrebt die Sozialisierung wenn nicht allen Privateigentums, so doch zum wenigsten aller Produktionsmittel.

Der innenpolitische Kampf drängt zu revolutionären Lösungen mit dem obersten Ziel der Weltrevolution. Sobald diese Revolution sich in einzelnen Staaten durchgesetzt hatte, gesellte sich zur innenpolitischen Spannung noch die außenpolitische, die sich schließlich zur weltpolitischen Spannung zwischen dem östlichen und dem westlichen Machtblock unseres Planeten ausgeweitet hat.

Zugleich aber haben die ursprünglich klaren Kampffronten der Ideen sich heillos verwirrt. Denn was im Osten verwirklicht wurde, ist nicht der erstrebte und propagandistisch verkündete Sozialismus, sondern ein verratener Sozialismus. Die Ausbeutung ist geblieben; nur die Träger und die Methoden der Ausbeutung hatten gewechselt. Die alleinige Allmacht des Staates ist an die Stelle einer Vielzahl privater Wirtschaftsmächte getreten, das konkurrenzlose Staatsmonopol an die Stelle vielfältiger Privatmonopole, der Staatskapitalismus an die Stelle des Privatkapitalismus. Und was an sich selbstverständlich ist, hat eine bittere Erfahrung hinlänglich bestätigt, nämlich daß ein einziger unumschränkter Herrscher ein viel drückenderer, erbarmungsloserer Herr ist als die Vielzahl kleiner Herren, die sich immerhin noch durch einen letzten Rest an Konkurrenz in ihrer Macht gegenseitig beschränken.

Aber auch im liberalistischen Westen wurde das Ideal der persönlichen Freiheit nie vollkommen verwirklicht und ist gerade durch die gegenwärtige Entwicklungstendenz zunehmender Sozialisierung, staatlicher Wirtschaftsführung und staatlicher Investitionspolitik stärker gefährdet als je. Auf der anderen Seite hat aber der Westen auch soziale Maßnahmen geschaffen, die jeder Arbeiter des Ostens, soweit er überhaupt von ihnen Kenntnis bekommen kann, nur mit neidvoller und verzweifelter Resignation betrachten kann.

Wie verhält sich der Liberalismus zum Sozialismus, die persönliche Freiheit zur Sozialordnung? – Nach unserem kurzen geschichtlichen Rückblick wenden wir uns mit dieser Frage der gegenwärtigen politischen Ordnung des Westens zu, wie sie vor allem in den Verfassungen der Demokratien fixiert ist, speziell für das heutige Deutschland im Bonner Grundgesetz.

Mit Befriedigung stellen wir fest, daß hier wie in allen modernen demokratischen Verfassungen die Grundrechte des einzelnen, also die persönlichen Menschen- und Freiheitsrechte, genau festgelegt und umrissen sind. Artikel 2 besagt: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. …Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ – Artikel 4: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ – Artikel 5: „Jeder hat das Recht seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. …Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. …Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ – Artikel 8: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ – Artikel 9: Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. – Artikel 11: „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“ – Artikel 12: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ – Artikel 13: „Die Wohnung ist unverletzlich.“ – Artikel 14: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“

Natürlich sind diese Freiheitsrechte nicht unbeschränkt. Es ist durchaus verständlich, daß ihre Ausübung allenthalben durch den Zusatz beschränkt wird: „... soweit es nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt.“ Es ist auch noch verständlich, wenn freilich schon bedenklicher, daß in diese Grundrechte durch Gesetz eingegriffen werden darf, beispielsweise „zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“, daß insbesondere in die Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen werden darf „zur Behebung der Wohnraumnot“. Was uns hier aber ausschließlich interessiert, ist die Beschränkung der persönlichen Freiheitsrechte durch soziale oder sozialistische Gesichtspunkte, wie dies z. B. bezüglich der Sachlage der Raumnot geschieht; oder etwa nach Artikel 7: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. …Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen“, wobei die Genehmigung unter anderem auch davon abhängig gemacht wird, daß durch private Schulen „nicht eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern gefördert wird.“

Am deutlichsten aber zeigt sich die Einschränkung der persönlichen Freiheit durch sozialistische Forderungen in der Frage des Privateigentums. Artikel 14 sagt hierzu: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. …Eine Enteignung ist nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig.“ Und dieser Gedanke findet seine Zuspitzung in dem darauf folgenden Artikel 15: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zweck der Vergesellschaftung durch Gesetz … in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft übergeführt werden."

So sehen wir in den Grundrechten beide Forderungen mit gleicher Klarheit ausgesprochen; die liberalistische Forderung grundsätzlich in Artikel 2: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ – die sozialistische Forderung grundsätzlich in Artikel 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Und wir sehen, daß die beiden Forderungen der Freiheit und der Gleichheit keineswegs so selbstverständlich nebeneinander bestehen können, wie es das Schlagwort der französischen Revolution glauben machte; sondern daß sie in einem spürbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen, ja dass sie sich gegenseitig teilweise aufheben oder zumindest aufs stärkste einschränken und entwerten.

Nachdem wir über unsere Frage zuerst die geschichtliche Entwicklung und sodann die gegenwärtige politische Ordnung zu Rate gezogen haben, wollen wir nun uns selbst, unsere eigenen Wünsche, Vorstellungen, Begriffe und Gedanken darüber befragen, wie Sozialismus und Liberalismus, Sozialordnung und persönliche Freiheit sich zueinander verhalten.

Wir untersuchen die grundlegenden Begriffe und stoßen zunächst auf den so schwierigen, umstrittenen und vieldeutig schillernden Begriff der Freiheit. Glücklicherweise werden wir vor allen philosophischen Fallstricken bewahrt durch die Einschränkung auf jene Formen persönlicher Freiheit, die sich im sozialen Leben betätigen und durch verfassungsmäßige Grundsätze umschrieben werden können. Und wir haben noch das besondere Glück, aus der Geburtsstunde des Liberalismus eine Definition der persönlichen Freiheit zu besitzen, die besser, umfassender, tiefer und klarer ist als in den meisten wortreichen Formulierungen der modernen Verfassungen. In den Artikeln 4 und 5 der Erklärung der Menschenrechte von 1789 heißt es:

„Die Freiheit besteht hauptsächlich darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet. Die Ausübung der Naturrechte eines jeden Individuums hat daher keine anderen Grenzen als jene, die anderen Gliedern der Gesellschaft die Ausübung der gleichen Rechte gewährleisten. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz festgelegt werden. Das Gesetz hat nur das Recht, die der Gesellschaft schädlichen Handlungen zu verbieten. Alles, was durch Gesetz nicht verboten ist, darf nicht verhindert werden, und niemand kann gezwungen werden, etwas zu tun, was es nicht vorschreibt.“

Die Freiheit besitzt also eine natürliche und notwendige Einschränkung durch die Forderung ihrer Allgemeinheit. Die unbeschränkte Freiheit einzelner, einer Minderheit oder auch einer Mehrheit bedeutet in Wahrheit Herrschaft, nämlich Unterdrückung und Knechtung der übrigen. Die Freiheit jedes einzelnen kann genau so weit gehen, daß dem Nebenmenschen das gleiche Ausmaß an Freiheit gesichert ist.

Insofern es sich um die Freiheit des Einzelmenschen, des Individuums handelt, gehen Liberalismus und Individualismus Hand in Hand. Aber die aufgezeigte natürliche Beschränkung der Freiheit bedeutet einen grundsätzlichen Einwand gegen den Individualismus. Der Mensch ist nicht nur Individuum, d. h. ein für sich bestehendes Einzelwesen, sondern er ist auch und ebensosehr, wie schon der griechische Philosoph Aristoteles definierte, ein Gemeinschaftswesen. Er ist nicht völlig unabhängig und selbstgenügsam, sondern er ist grundsätzlich ergänzungsbedürftig; er ist beständig auf die Hilfe seiner Mitmenschen und auf die Zusammenarbeit mit ihnen angewiesen, wie dies in der modernen Zivilisation, Technik und arbeitsteiligen Wirtschaft besonders sinnfällig zum Ausdruck kommt. Das Individuum ist nicht vor dem gesellschaftlichen Zusammenschluß da, wie die Utopie eines Gesellschaftsvertrages nach Rousseau behauptet, und ebenso wenig die Gesellschaft vor dem Individuum, sondern beide können nur gleichzeitig mit einander und durch einander existieren. Individuum und Gemeinschaft sind nicht Gegensätze, sondern sie sind zwei Pole im Doppelsinn der polaren Spannung und der polaren Ergänzung. Wird in einem Magneten der eine Pol beseitigt, so verschwindet notwendig im selben Augenblick auch der andere. Wird das Gleichgewicht im polaren Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft gestört, indem einer der beiden Pole zu Gunsten des anderen zurückgesetzt und geschmälert wird, so ist dies für beide gleich verhängnisvoll.

Es ist eine gefährliche These, daß Gemeinnutz vor Eigennutz gehe – eine These, die immer wieder im Dienst einer herrschenden Minderheit, eines machtpolitischen Apparates oder eines bürokratischen Mechanismus auf Kosten des Wohlergehens aller einzelnen missbraucht wurde. Worin soll das Gedeihen der Gemeinschaft bestehen, wenn nicht im Gedeihen aller einzelnen? Eine richtige Gemeinschaft und eine richtige Sozialordnung muß so gebaut sein, daß der berechtigte wohlverstandene Eigennutz des einzelnen der stärkste Motor und die beste Sicherung des Gemeinwohles ist. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ordnungen sind vom Menschen und für den Menschen geschaffen; sie haben dem Menschen und seinem Zusammenleben zu dienen. Die Ordnungen sind für den Menschen da, nicht der Mensch für die Ordnungen.

Damit kommen wir zum Begriff der Ordnung. Ihr entscheidendes Merkmal ist die Stabilität. Wenn eine „Ordnung“ wirklich diesen Namen verdienen soll, so muß sie bestehen und dauern, also stabil sein. Das hat zur Voraussetzung, daß sie möglichst frei ist von Spannungen; also dass sie möglichst gerecht ist und mit einem Mindestmaß von Zwang, mit einem Höchstmaß von Freiheit bestehen kann. Es muß eine „natürliche“ oder „dynamische“ Ordnung sein, in der das freie Spiel der Kräfte beständig von selbst zum Ausgleich jeder Störung und zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes führt. Das Gegenstück ist die „künstliche“ oder „statische“ Ordnung, die unter erzwungenen und erstarrten Formen die lebendigen Kräfte unterdrückt und vergewaltigt, so daß diese entweder in illegalen unterirdischen Formen nach einem Ausgleich drängen – ich erinnere nur an den Schwarzen Markt! – oder aber unter der Decke sich heimlich aufstauen und steigern, bis es zur Explosion und zur gewaltsamen Änderung der erzwungenen Ordnung kommt.

Diese Forderungen gelten für jede Ordnung schlechthin und im allgemeinen Sinn des Wortes; ganz besonders aber, wenn sie den Anspruch erhebt, eine Sozialordnung zu sein. Damit stoßen wir auf einen weiteren Begriff, der als Gegenstück zum Begriff des Liberalismus ebenso grundlegend und entscheidend für unser Problem ist, aber auch ebenso schwierig, umstritten und vieldeutig schillernd: den Begriff des Sozialismus. Wir wollen ihn seinem Wesen nach durch die Forderung der sozialen Gerechtigkeit charakterisieren, nicht nach seiner historischen Entwicklung durch irgendwelche äußerlichen Kennzeichen oder rein technischen Maßnahmen wie z. B. die Sozialisierung der Produktionsmittel; denn hierbei handelt es sich ja doch nur um Mittel zum Zweck, die entbehrlich werden, sobald bessere Mittel für die Erreichung des gleichen Zieles gefunden werden.

Soziale Gerechtigkeit! Gerechtigkeit heißt nach dem bekannten Grundsatz der alten Römer: „Jedem das Seine!“ – nicht aber: „Jedem das Gleiche!“ Der richtig verstandene Sozialismus geht deshalb völlig parallel mit dem richtig verstandenen Liberalismus in der Forderung, daß jeder jene Lebensstellung und jenen Lebensstandard erreichen und erhalten soll, wie er es nach Neigung, Eignung und Leistung verdient. Nicht gleiche Lebens- und Arbeitsweise, gleicher Lebensstandard für alle, sondern gleiche Voraussetzungen, gleicher Start für alle heißt die Forderung. Die Verschiedenheit der Menschen nach Neigung, Eignung und Leistung ist eine Tatsache, die nicht wegdisputiert und die nur durch Zwang unterdrückt oder verdeckt werden kann. Eine Sozialordnung ist nur dann natürlich und dynamisch im vorhin genannten Sinn, also auch nur dann gerecht und stabil, wenn sie dieser natürlichen Ungleichheit der Menschen Rechnung trägt. Und sie ist dann statisch, ungerecht und instabil, wenn sie stattdessen eine künstliche Gleichheit der Menschen erzwingen will; ebensosehr aber auch dann, wenn sie statt der natürlichen eine künstliche Ungleichheit der Menschen schafft und durch Zwang aufrecht erhält, gleichgültig, ob es sich um die künstliche Ungleichheit von Standesvorrechten, politischer Macht, Wirtschaftsmonopolen oder Kapitalmacht handelt.

Unsere Überlegungen haben uns gezeigt, daß der historisch gewordene Gegensatz zwischen Liberalismus und Sozialismus keine innere Notwendigkeit besitzt. Freilich nur dann, wenn wir auf den ursprünglichen, unverfälschten und unverzerrten Gehalt dieser beiden Begriffe zurückgehen: reiner Liberalismus ohne kapitalistische Entartung, ohne Monopolbesitz und Ausbeutung – reiner Sozialismus ohne überspitzte Planwirtschaft, ohne staatlichen und kollektivistischen Zwang. Nur eine sozial gerechte Ordnung kann stabil und damit freiheitlich sein; jede künstlich erzwungene Ordnung aber führt durch Erstarrung und durch Unterdrückung der lebendigen Kräfte des Ausgleiches notwendig zu neuen Ungerechtigkeiten. So verstanden sind persönliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit zwei Forderungen, die sich nicht widersprechen und gegenseitig einschränken, sondern gegenseitig bedingen und stützen.

Freilich, unsere letzten Überlegungen bewegten sich frei im Raume der Gedanken, der Begriffe und Vorstellungen, nicht in jener realen Welt, wo hart im Raume sich die Dinge stoßen. Die Geschichte des Liberalismus und des Sozialismus, die gegenwärtige politische und soziale Ordnung, scheint unsere Gedanken Lügen zu strafen. Aber das ist Schein! Der historische Liberalismus hat versagt – nicht als Liberalismus, sondern in seiner verhängnisvollen Verquickung mit dem Kapitalismus. Er hat versagt – nicht weil er zuviel, sondern weil er zu wenig Freiheit verwirklichte. Hier liegt der folgenschwere Trugschluss der sozialistischen Gegenströmung. Die liberalistische Wirtschaft war in Wahrheit keine freie, sondern eine vermachtete Wirtschaft, vermachtet durch Monopolbildung, kapitalistische Machtballungen, durch Konzerne und Trusts, die das Wirtschaftsleben über Preise, Zinsen und Löhne nach ihren eigenen Interessen bestimmten. Wo durch Monopole und Oligopole, durch Konzerne und Trusts der freie Wettbewerb entstellt und gefälscht, die freie Konkurrenzwirtschaft unterbunden und zerstört wird, da fehlt die elementare Grundlage eines liberalistischen Systems im ursprünglichen, klaren und eindeutigen Sinn dieses Wortes.

Der Sozialismus ersetzt die private Vermachtung durch die staatliche Vermachtung der Wirtschaft mit dem Ergebnis, daß die soziale Gerechtigkeit keinesfalls erhöht, aber die automatische und rationelle Funktionstüchtigkeit der Wirtschaft entscheidend geschwächt wird. Der historische Weg, die unerwünschten sozialen Auswirkungen einer fehlerhaften Wirtschaftsordnung durch politische Maßnahmen und staatliche Eingriffe zu beseitigen, musste notwendig scheitern. Eine brauchbare Sozialordnung kann nicht mit bürokratischen Mitteln erzwungen werden, sondern nur aus einer richtig funktionierenden Wirtschaftsordnung erwachsen. Nur eine natürliche, dynamische Gesellschaftsordnung auf der gesicherten Basis einer natürlichen, dynamischen Wirtschaftsordnung ist stabil und kann ohne großen Aufwand an bürokratischen Mitteln und gesetzlichen Regelungen nachträglich noch politisch-rechtlich gesichert werden, soweit dies überhaupt noch erforderlich ist.

Nun bleibt noch eine Frage offen – freilich die entscheidende Frage, mit der alles bisher Gesagte steht und fällt: die Frage nach der Existenz oder wenigstens nach der Möglichkeit der hier geforderten natürlichen oder dynamischen Wirtschaftsordnung. Leider geht die Beantwortung dieser Frage weit über den Rahmen meines Vortrages hinaus und würde nicht nur einen eigenen, sondern noch eine Vielzahl eigener Vorträge erfordern, nämlich die zusammenfassende Darstellung und Begründung des gesamten Ideengutes und Erkenntnissystems der Freiwirtschaftslehre, Stattdessen muß ich mich hier damit begnügen, diese Wirtschaftsordnung mit ein paar Schlagworten zu charakterisieren, also mit vorerst unbewiesenen Behauptungen für jeden, der das von uns gebotene Beweismaterial noch nicht kennt.

Die wahrhaft freie Wirtschaft, charakterisiert durch den unverfälscht freien Wettbewerb und die uneingeschränkte Konkurrenz, kann nur durch Überwindung der Monopole verwirklicht werden. Die Monopole beruhen einerseits auf dem künstlichen, d. h. dem geschaffenen Kapital, nämlich den Produktionsmitteln und dem Geldkapital; andererseits auf dem natürlichen, also angeeigneten Kapital, nämlich dem Grund und Boden und allen Bodenschätzen. Das erstgenannte Kapital-Monopol wird nicht gebrochen durch „Sozialisierung der Produktionsmittel“, sondern durch Überwindung der Kapitalknappheit auf dem Wege einer ungestörten und ungehemmten Vermehrung des künstlichen Kapitals, wie sie in jeder Konjunkturperiode so hoffnungsvoll eingeleitet wird. Die regelmäßig sich wiederholenden Störungen dieser Entwicklung durch einseitige Einkommensverteilung, durch die Zinsinteressen und durch die aus beiden Ursachen resultierende Absatzkrise sind letzten Endes in einer Struktureigentümlichkeit unseres Geldwesens begründet und können durch eine geeignete Reform desselben überwunden werden. Das zweitgenannte Kapital-Monopol beruht auf der nicht zu beseitigenden Knappheit des natürlichen Kapitals und kann nur durch eine geeignete Bodenrechtsreform gebrochen werden, die dem Wesen der „Sozialisierung“ nahe kommt. Geld- und Bodenmonopol sind die beiden entscheidenden Monopole, die dem privaten Machtzugriff entzogen und der Kontrolle der Allgemeinheit unterstellt werden müssen. Die Verwaltung der Währung und die Überwachung des sozialen Bodenrechtes sind die einzigen Staatsmonopole, die aber nach Durchführung der freiwirtschaftlichen Reformen nicht mehr eine Machtstellung des Staates begründen, sondern lediglich eine genau umrissene Funktionsausübung bedingen. Das Ergebnis ist eine ausbeutungs- und hemmungsfreie, daher auch krisenfeste Vollbetriebswirtschaft, in der auch künstliche Zusammenschlüsse wie Kartelle und Trusts sich unter dem wachsenden Druck der Konkurrenz nicht zu halten vermögen. Diese wahrhaft freie Wirtschaft ist zugleich die einzig denkbare sozial gerechte Wirtschaft, da sie nach Beseitigung aller Formen des arbeitslosen Einkommens die soziale Grundforderung des vollen Arbeitsertrages verwirklicht und den Lebensstandard des einzelnen in einem unverfälschten und unverzerrten freien Wettbewerb nur nach der Leistung bestimmt.

Die hier mit wenigen Strichen charakterisierte Natürliche Wirtschaftsordnung ist die notwendige, aber auch zureichende Grundlage für den Aufbau einer Sozialordnung, die freiheitlich und zugleich gerecht ist. Nur auf einem wirtschaftlich gesicherten Fundament können sich auch die höheren Bereiche des sozialen Lebens erheben bis zu den Höhen des geistigen und kulturellen Lebens, das ja in besonders entscheidendem Ausmaß die Atmosphäre der geistigen Freiheit, das freie Spiel der Kräfte im freien Wettbewerb benötigt. Und nur auf dem festen Fundament der wirtschaftlichen Freiheit ist die geistige Freiheit, die Meinungs-, Glaubens-, Forschungs-, Lehr- und Pressefreiheit gesichert. Der Staat aber hat sich jeder Übergriffe in das geistige und kulturelle Leben ebenso zu enthalten wie in das eigentliche Wirtschaftsgeschehen. Die Domäne des Staates ist einzig und allein die Rechtsordnung, in die auch die beiden grundlegenden Rechtsnormen des wirtschaftlichen Lebens, nämlich Währungsverwaltung und Bodenrecht gehören.

So ist für uns Verfechter der Freiwirtschaftslehre die natürliche Ordnung der Wirtschaft nicht nur Selbstzweck, sondern vor allem Fundament für eine natürliche Ordnung der Gesellschaft und der Kultur durch Erfüllung der beiden Forderungen: persönliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit.

Dr. Ernst Winkler (aus Magna Charta der Sozialen Marktwirtschaft, 1951)


Wer „anderer Meinung“ ist, sollte sich schnellstens in Behandlung begeben:



Stefan Wehmeier, 18. August 2012


2 Kommentare:

  1. Der bekannte kanadische Philosoph Stefan Molyneux, der sich auch mit Ludwig Erhard beschäftigt hat, hat eine sekuläre Ethik entworfen auf dessen Prinzipien man auch eine neue Wirtschaftsordnung aufbauen kann.

    Die Grundsätze Molyneuxs (Universally Preferable Behavior) sind (aus meiner Sicht) einfacher zu verstehen, und haben damit eine größere Chance auf Umsetzung.

    Persönliche Freiheit ist nach Molyneux kein Recht, dass uns der Staat einräumt sondern naturgegeben.

    Daraus folgt, dass die Politiker, welche uns Freiheitsrechte nur gewähren, wenn wir Steurn zahlen, unrecht tun und gegen Naturgesetze verstoßen.

    http://www.fdrpodcasts.com/#/2699/why-democracy-always-fails--peter-schiff-radio-show-may-15th-2014-

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    1. "Persönliche Freiheit ist nach Molyneux kein Recht, dass uns der Staat einräumt sondern naturgegeben."

      Eine "naturgegebene Freiheit" mag es für Tiere geben, nicht aber für den Kulturmenschen:

      "Die Wirtschaftsordnung, von der hier die Rede ist, kann nur insofern eine natürliche genannt werden, da sie der Natur des Menschen angepasst ist. Es handelt sich also nicht um eine Ordnung, die sich etwa von selbst, als Naturprodukt einstellt. Eine solche Ordnung gibt es überhaupt nicht, denn immer ist die Ordnung, die wir uns geben, eine Tat, und zwar eine bewusste und gewollte Tat."

      Silvio Gesell, Vorwort zur 3. Auflage der NWO

      Freiheit in einer arbeitsteiligen Zivilisation (der Welt des Kulturmenschen) ist nichts anderes als das "Recht zur Beteiligung am Wettbewerb":

      http://opium-des-volkes.blogspot.de/2013/02/halbwegs-glucklich.html

      Schöne Grüße an den bekannten kanadischen Dummschwätzer.

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